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Magni-Netz-Post-Archiv

Impulse und Andachten aus St. Magni

"Und ab den Post!" Hier stellen wir regelmäßig Andachts- oder Impulstext aus St. Magni online. Lassen Sie sich überraschen und klicken Sie sich herein. Wer möchte, erhält einzelne der hier eingestellten Beiträge auch per Post nach Hause. Ein kurzer Hinweis ans Magni-Gemeindebüro genügt. Bitte weitersagen!

Von Bäumen und Birnen

 

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll.
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: »Junge, wiste 'ne Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.«
So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen »Jesus meine Zuversicht«,
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
»He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?«

Am 06. Februar war nach dem jüdischen Kalender der 15. Tage des Monats Schevat – auf hebräisch: Tu Bischevat. Im Judentum wird an diesem Tag das Neujahr oder auch der Geburtstag der Bäume gefeiert. Während in unseren Breitengraden noch Winterkälte herrscht, markiert diese Zeit des Jahres in Israel den Beginn des Frühlingserwachsens. Wenn die ersten Knospen die Erntezeit ankündigen, wird an den reichen Segen Gottes als Schöpfer jeder Frucht erinnert und ihm gedankt. Hilfreich war dieser Stichtag aber auch für die Einhaltung einer biblischen Vorschrift aus dem 3. Buch Mose: Die Früchte eines Baumes dürfen in den ersten drei Jahren nicht gegessen werden. Erst wenn er stark genug ist, lange gehegt und gepflegt wurde, darf geerntet und genossen werden. Wenn der Baum tiefe Wurzeln ausbilden konnte, einen starken, tragfähigen Stamm und eine weite Krone, die sich dem Himmel entgegenreckt. „Handelt ihr so, werdet ihr mehr Ertrag haben. Ich bin der HERR, euer Gott.“ Und Jesus sagt: „Ein guter Baum bringt gute Früchte hervor. Aber ein schlechter Baum bringt schlechte Früchte hervor.“

Vielleicht sind wir Menschen so. Ein bisschen wie Bäume. Gepflanzt von Gott in unserem Glauben. Als zartes Pflänzchen nicht genötigt zu Höchstleistungen. Aber gehegt und gepflegt. Fest gegründet und sicher verwurzelt. Behütet und begleitet auf dem Weg zu eigener Stärke so lange, wie es eben braucht. Und niemals verlassen von der Fürsorge, Hege und Pflege Gottes. In ertragreichen Zeiten ebenso wie in Zeiten der Dürre.

»He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?«
So klagten die Kinder. Das war nicht recht -
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was er damals tat,
Als um eine Birn' ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: »Wiste 'ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew' di 'ne Birn.«
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.


Ein Wort zum Alltag im Braunschweiger Dom von Vikarin Lisa Koch-Wehe aus dem Pfarrverband Braunschweig-Mitte, Bezirk I.


 

Lakritze teilen

 

Seit 50 Jahren schauen Kinder in Deutschland die Sesamstraße. Von Anfang an gehören Ernie und Bert dazu und mancher Sesamstraßen-Film, in dem man mit diesen beiden ungleich Freunden viel lernen kann über Fairness, Freundschaft und Gerechtigkeit.

„Du, Bert, ich war einkaufen und habe für uns Lakritze mitgebracht.“ So beginnt der Film „Lakritze teilen“. Dann fährt Ernie fort: „Da wir alte Kumpels sind und alles miteinander teilen, schneide ich das Lakritz jetzt in zwei Teile. Die eine Hälfte ist für dich und die andere für mich.“ Alle, die Ernie und Bert ein wenig kennen, ahnen schon, dass das nicht gut ausgeht. Und tatsächlich sind die von Ernie geschnittenen Stück nicht gleich lang. Also schneidet er ein Stück von dem zu langen Teil ab und isst es auf. Und weil sie natürlich wieder nicht gleich lang sind, schneidet Ernie munter weiter, bis er die Lakritzstange vor den Augen von Bert aufgegessen hat. Als der schon völlig verzweifelt ist, zaubert Ernie eine neue Stange aus der Tüte. Doch statt diese gerechterweise Bertzu geben, beginnt das Spiel von Neuem.

Einfach genial, dieser kurze Film: Besser kann man Kindern das Thema Gerechtigkeit nicht nahebringen. Denn allen ist klar: Nur ein gleich langes Stück Lakritz ist gerecht geteilt. Alles andere wäre unfair, oder?

Auch Jesus muss diese Gleichung „gleich lang = gerecht“ gekannt haben, lange bevor die Sesamstraße zum ersten Mal über den Bildschirm flimmerte. Und auch er erzählt eine kurze Geschichte, an deren Ende es scheinbar ungerecht zugeht: Da ist ein Weinbergbesitzer, der Tagelöhner anheuert. Von frühmorgens bis zum späten Nachmittag geht er immer wieder los und stellt neue Arbeiter ein; die letzten erst, als die ganze Arbeit schon fast getan ist. Am Ende des Arbeitstages erhalten jedoch alle Arbeiter denselben Tageslohn; auch die, die nur eine Stunde gearbeitet haben. „Das ist ungerecht aufgeteilt“, beschwert sich einer von denen, die zwölf Stunden geschuftet haben. Aber der Weinbergbesitzer lässt sich nicht beirren: „Warum bist du neidisch, weil ich so gütig bin?“

Gleich lang muss nicht immer gerecht sein, sagt Jesus, der - allen ist es längst klar - eine Geschichte über Gottes Güte erzählt hat. Dieser Güte sind alle Menschen gleich viel wert - unabhängig davon, dass sie in ihrem Tun und Geschick oft extrem verschieden sind. Das wiederum könnte ein wirklicher guter Sesamstraßen-Gedanke sein!


 

Zur Epiphaniaszeit: Er ist immer noch da.


Der kleine Junge hockte auf dem Fußboden
und kramte in einer alten Schachtel.
Er förderte allerhand wertlose Dinge zutage,
darunter auch einen silberglänzenden Stern.

„Was ist das?“, fragte er.
„Ein Weihnachtsstern“, sagte die Mutter.
„Etwas von früher, von einem alten Fest.“
„Was war das für ein Fest?“, fragte der Junge.
„Ein langweiliges“, sagte die Mutter.
„Die ganze Familie stand in der Wohnstube
um einen Tannenbaum und sang Lieder.
Und an der Tannenspitze befestigte man den Stern.
Er sollte an den Stern erinnern, dem die Hirten
nachgingen, bis sie den kleinen Jesus in der Krippe fanden.“
„Der kleine Jesus in einer Krippe “, fragte der Junge,
„was soll das nun wieder sein?“
„Das erzähle ich dir ein andermal“, sagte die Mutter.
Dann öffnete sie den Deckel des Müllschluckers
und gab ihrem Sohn den silbernen Stern in die Hand:
„Du darfst ihn hinunter werfen und aufpassen,
wie lange du ihn noch siehst.“

Der Junge warf den Stern in die Röhre
und lachte, als er verschwand.
Aber als die Mutter nach einer ganzen Weile wieder kam,
da stand er wie vorher über den Müllschlucker gebeugt.
„Was machst du da?“
„Ich sehe ihn immer noch“, flüsterte er.
„Der Stern glitzert. Er ist noch immer da.“

(nach Marie Luise Kaschnitz)


 

Sieger mit viel Herz

 

In den Tagen zwischen den Jahren laufen auf allen Kanälen wieder die Jahresrückblicke. Sie sortieren das Jahr nach seinen großen und kleinen Geschichten. Eine ist die des Leichtathleten Nahuel Carabaña aus Andorra. Nur rund 78.000 Menschen leben in diesem kleinen Staat in den östlichen Pyrenäen. Einer von ihnen ist Nahuel, 22 Jahre alt.

Im August dieses Jahres erfüllt er sich einen Traum: Er reist als Langstrecken- und Hindernisläufer zu den Euromeisterschaften nach München. Nahuel startet im 3000 Meter Hindernislauf der Männer. Dabei geht es oft sehr eng und rau zu. Die Läufer sind dicht beieinander und müssen bei hohem Tempo über Hindernissen springen.

Dann passiert es mitten in einer Gruppe von Läufern: Ein Däne, der an der Spitze der Gruppe läuft, strauchelt, kommt zu Fall und verletzt sich. Die Meute hetzt über ihn hinweg, an ihm vorbei, lässt den Gestrauchelten am Boden zurück. Auch Nahuel Carabaña rennt zunächst weiter. Im Augenwinkel habe er jedoch wahrgenommen, was passiert sei, wird er später erzählen. Und dann tut er etwas Unerwartetes: Er stoppt ab, dreht sich um und läuft zurück, um dem gestürzten Kollegen zu helfen. Weil dieser nicht aufstehen kann, greift er ihm unter die Arme und zieht ihn von der Bahn. Dabei werden sie vom Läuferfeld überrundet. Als alle anderen Läufer schon längst im Ziel sind, muss Nahuel Carabaña noch seine zwei letzten Runden laufen: 800 Meter alleine auf der Bahn, aber unter dem tosenden Beifall des Publikums. Über 20.000 Menschen applaudieren ihm. Sie feiern einen Gewinner, der später sagt: „Eigentlich wollte ich dem Kollegen nur helfen, etwas Gutes tun."

Wie gut, dass dieses zuende gehende Jahr neben allen Krisenberichten auch diese Geschichte erlebt habt: eine mit viel Herz, das für andere schlägt. Sie passt zu einem Gedanken, der Jesus wichtig war: Man kann sich die Menschen, die Hilfe brauchen, niemals aussuchen. Da gehst du nichts ahnend deiner Wege und siehst: Da drüben geht es  jemandem nicht gut. Dann, sagt Jesus, nimm dein Herz in die Hände und tu, was du tun kannst, um zu helfen! Wer dann erst lange überlegt, läuft meistens vorbei und denkt dabei eher an sich. Manche aber, die Not sehen, überlegen nicht lange, sondern lindern das Unglück, so gut es geht. So, wie Nahuel Carabaña es tut. Der verliert zwar seinen Wettkampf, wird aber trotzdem als Sieger gefeiert - und sagt: „Jeder von uns kann so etwas machen. Wir können uns gegenseitig helfen.“


 

Nach dem vierten Advent: Den Himmel aufschließen

 

Ich klopfe an und stecke den Kopf durch die Tür. Sie liegt im Bett und blickt aus dem Fenster. Der Himmel ist stark bewölkt, unendliches Novembergrau über der Stadt, auch über dem St. Hedwighaus in Viewegs Garten.

„Was für ein schrecklich trüber Tag heute“, sagt sie. Sie sieht müde aus. Es war kein leichtes Jahr. Auf einmal muss sie lächeln: „Was haben Sie denn da? Sie glitzern ja richtig!“ Ich wische mir über die Stirn. Ja, richtig: Da ist Glitzer, ziemlich viel sogar. Am Vormittag haben wir im Kindergarten Engel gebastelt zum Advent. Und die sind, sagen die Kinder, nur schön mit richtig viel Glitzerstaub.

Als ich das erzähle, muss sie lachen. Und dann erzählt sie wie von selbst von früher, weit zurück über 80 Jahre: von der Kindheit mit den Geschwistern, von der Mutter, die sie alle durchgebracht hat, von Advent und Weihnachten in den Kriegsjahren und der großen Freude, aus wenig viel zu machen. „Ach, war das schön!“, sagt sie. Dann ist ein Moment Stille. Sie wirkt abwesend und müde. Als ich mich verabschieden will, sagt sie: „Ist das nicht ein schöner, heller Tag heute?“ Draußen ziehen nach wie vor dicke Wolken vorbei - und doch: Jetzt ist es ein hellerer Tag!

Wir Menschen können das: einander den Himmel aufschließen, für einen Moment den Blick so heben, dass Herzen und Horizonte weiter werden. Wir Menschen können das: einander mit Freude anstecken, unsere Herzen zum Hüpfen bringen. Wir Menschen können das. Und der Schlüssel dazu liegt nicht irgendwo, sondern direkt in uns. In unserem Blick aufs Leben, in dem keiner als einsame Insel für sich existieren kann. In unseren Händen, wenn wir für jemanden sorgen dürfen. In unseren Herzen, wenn wir uns vom Glück oder der Not anderer berühren lassen. Wir Menschen können das: einander spüren lassen, dass diese Welt mehr sein kann als ein trüber und schrecklicher Ort.

„Ist das nicht ein schöner, heller Tag heute?“ Das fragt sie, als ich mich verabschiede. Draußen ziehen weiter dicke Wolken vorbei - tristes Novembergrau und doch: Jetzt ist es ein hellerer Tag für uns beide! So muss der Friede Gottes sein, der höher ist als unsere Vernunft. Dieser Friede wohne heute und alle Zeit in unseren Herzen.


Zum dritten Advent: Letzte Worte

 

‚Zum Ersten, zum Zeiten, zum Dritten‘,
so heißt es auf Versteigerungen.
Dann wird mit einem Hammer zu geschlagen.
Es geht danach nichts mehr.
Jetzt lässt keiner mehr mit sich reden,
das ist das letzte Wort.

So ähnlich kann es auch bei uns passieren:
‚Schluss jetzt! Das ist mein letztes Wort!
Wenn du das jetzt nicht tust, dann …‘
Sie kennen solche bedrohlichen Sätze
aus ihrem eigenen Leben.

Das schreibt vor fünfundzwanzig Jahren,
am dritten Advent 1998, Armin Kraft.
Er war Klosterpfarrer in Riddagshausen,
Prediger am Dom und Propst in Braunschweig.
Am 02. Dezember ist Armin Kraft gestorben.
Er ist 81 Jahre alt geworden.

‚Schluss jetzt! Das ist mein letztes Wort!
Wenn du das jetzt nicht tust, dann …‘
In seinem Kraft-Wort zum dritten Advent,
jener Kolumne in der Neuen Braunschweiger
denkt Armin Kraft über die sogenannten
letzten Worte nach, die jedoch, so Kraft,
in Wahrheit immer nur vorletzte sind, denn:
Es kommt nämlich noch etwas hinterher -
das Handeln!
Unser Reden und Handeln gehören zusammen.
Leider wird das letzte Handeln noch mehr wehtun
als das letzte Wort, das ein endgültiges Urteil ist.
Und mahnend fügt Armin Kraft an:
Meine Bitte ist, dass wir sehr vorsichtig und
sparsam mit solchen endgültigen Urteilen umgehen.

Wir haben in den vielen Krisen und Konflikten
dieses langen Jahres oft das Gegenteil davon erlebt:
so viele markige Worte, rote Linien,
letzte Warnungen und daraus gezogene Konsequenzen.
Das gilt für den Streit in unserer eigenen Kirche,
der Menschen so weit auseinandergebracht hat,
dass ein Miteinander nicht mehr möglich ist.
Und das gilt erst recht für die vielen Konflikte
in der großen Welt, die uns durch den brutalen
Krieg in der Ukraine  so unmittelbar geworden sind.

‚Schluss jetzt! Das ist mein letztes Wort!
Wenn du das jetzt nicht tust, dann …‘
Das ist in allem Ärger, aller Wut und Enttäuschung
so oft, so schnell und so alternativlos zu hören,
dass man darüber fast vergessen kann,
wie sehr wir alle zum Leben das Andere brauchen,
das nicht Hass und Krieg und Gewalt ist,
sondern aus den Gedanken von Begegnung,
von Versöhnung und Vergebung lebt.

Wo dieses Andere Raum und Recht gewinnt,
da werden wir unsere Konflikte niemals nur
nach vorne denken können -
hin zur Entscheidung durch Sieg oder Niederlage.
Wir werden vielmehr danach suchen,
was an Diplomatie jetzt möglich ist,
um Auseinandersetzungen und Unrecht zu beenden.
Und wir müssen uns vor allem selbst fragen,
was wir dafür tun können,
dass vorletzten Worten keine letzten Taten folgen.

Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr,
dass ihre Knechtschaft ein Ende hat,
dass ihre Schuld vergeben ist.
Zion, du Freudenbotin,
steig auf einen hohen Berg;
Jerusalem, du Freudenbotin,
erhebe deine Stimme mit Macht;
erhebe sie und fürchte dich nicht!
Sage den Städten Judas:
Siehe, da ist euer Gott.

So redet der Prophet Jesaja im Predigttext
dieses dritten Adventssonntag.
Du hast uns, lieber Heiko Frubrich,
diese alten Worte in Erinnerung gerufen.
Jesaja beschreibt in starken Bildern,
wie das ist, wenn sich das Starre löst,
was geschehen kann, wenn das,
was gerade noch zu steil,
ja undenkbar war, eben wird,
und das öde Gespräch wieder fruchtbar.

Diesem Gott sollt ihr den Weg bereiten, mahnt Jesaja:
Gott, der die rote Linien aufhebt,
die ihr gezogen habt,
der sich gerade dort neue Pfade
in die Welt hinein bahnen will,
wo euer Blick längst eng geworden ist
und die Aussicht auf Frieden mäßig scheint.

Die alten biblischen Hoffnungsbilder wirken,
so beschreibt es der Theologe Fulbert Steffensky,
wie ein Strudel, in den wir gezogen werden.
Sie spülen uns dorthin, wo wir noch nicht sind
mit unseren eigenen Erwartungen.
Noch sind Menschen in Unheil verstrickt,
und die Stimme der Freudenboten predigt
Gutes und Heil.

Das also will hier und jetzt neu
in unsere Köpfe und Herzen hinein.
Es sucht uns als Menschen, die sich um die Zukunft
sorgen. Die nicht vergessen haben,
wie wichtig Barmherzigkeit und Güte
im Umgang miteinander sind.
Die wissen, dass Gott ein Freund des Friedens
und nicht der Waffengänge und des Streits ist.

Ich kehre am Ende meiner Gedanken noch einmal
Zurück zu Kraft-Worten aus dem Advent 1998.
Sie enden mit einem Wunsch, der geht so:
Ich wünsche Ihnen,
dass Sie Ihre Mitmenschen heute höher bewerten
als Ihren Ärger, Ihre Wut, Ihren Neid.
Und wenn Sie am  dritten Advent in Versuchung
geraten sollten, solche sogenannten letzten Worte
einem anderen entgegenzuschreien,
lassen Sie sich doch drei Schlupflöcher:
zum Vertragen, Vergeben und neuem Vertrauen.

Amen. Ja, so soll es sein.

Gebet

Gott, du sprichst:
"Tröstet, tröstet mein Volk!"
Um deinen Trost bitten wir dich:
Für alle, die sich einsam und verloren fühlen.
Für alle, die um einen Menschen trauern.
Für alle, die nicht wissen, wie es weitergeht.

Wir bitten dich um deinen Trost, Gott:
Für alle, die mit schwerer Schuld leben müssen.
Für alle, denen Gewalt und Unrecht angetan wird.
Für die Heimatlosen und Geflüchteten.
Für alle, die sich nach Frieden sehnen.

Wir bitten dich um deinen Trost, Gott:
Für alle Menschen, an die wir jetzt denken.
Für uns selbst, wenn wir Zuspruch brauchen.
Höre du in unsere Stille hinein. - Stille -
Gott, erbarme dich, tröste uns.
Amen.


Träume müssen wahr werden

 

„Die schwerste Reise meines Lebens begann am 04. März. An einem frostigen Morgen, es war noch dunkel, machten sich mein Sohn und ich mit dem Auto auf den Weg zur Grenze. Vor dem Krieg hatte ich Danylo eine Berlinreise im Frühling versprochen, wir wollten den Freizeitpark ‚Tropical Islands‘ besuchen, ein Geschenk zu seinem achten Geburtstag. Nun ist es Frühling und wir sind in Berlin. Alles wie geplant. Aber ich wandele wie eine Schlafwandlerin durch diese bezaubernde Stadt. Dieser Krieg ist immer bei dir, egal, wo du bist. In der Ukraine sagt man, dass es für diejenigen, die geflohen sind, schwieriger ist. Ihr Himmel ist klar, aber sie müssen ganz von vorne anfangen.“

Diese Sätze schreibt Darka Gorova. Sie ist Reisejournalistin von Beruf und hat von der Ukraine aus die Welt bereist. Seit dem Frühjahr lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin. Und beschreibt, wie das ist: in Sicherheit zu sein - unter klarem Himmel - und doch Kopf und Herz nicht frei zu bekommen und dem eigenen Kind unbedingt Zuversicht geben zu wollen. Wie kann das gehen? Man kann so hilflos, so fassungslos darüber sein, wie schnell die Welt aus den Fugen gerät;  wie sich die Angst festgesetzt im eigenen Leben, wenn das Gewohnte nicht mehr sicher ist, dir Blick und Herz nicht mehr frei werden.

„Ach, Gott, tröste uns. Du, schau doch her und nimmt dich deiner geplagten Welt an. Ungezählt ist, was uns ängstigt und mutlos macht." Das sind alte Bibelworte aus dem 80. Psalm. Sie gehören zur Adventszeit und mit ihnen der Gedanke, dass mit Gott immer zu rechnen ist. Dass gerade dort, wo das Leben zu wanken beginnt,  Hoffnung auf ein noch offenes Ende sein soll. Für alle, die sich sehnen nach einem Leben ohne Furcht und Flucht, ohne Krieg und Katastrophen, ohne Sieger und Besiegte. Diese Hoffnung in unsere Köpfe und Herzen. Und sie will durch uns in diese Welt hinaus.

Sie sei, so erzählt Darka Gorova, mit Danylo zur Gedenkstätte an der Berliner Mauer gegangen:  „Zu den Geschichten der Menschen, die auf einem Hängegleiter die Mauer überflogen oder durch gegrabene Tunnel flohen. Jetzt hängt eine große ukrainische Flagge an der Gedenkstätte. Ich sehe meinen Sohn an und sage: ‚Alle Mauern und alle Imperien fallen, ganz bestimmt! Du wirst es sehen!‘ Ich weiß es genau. Das ist mein Weihnachtswunsch. Wir waren immer noch nicht im ‚Tropical Islands‘. Vielleicht wird es ein Geschenk zu Weihnachten, zu einem weiteren Geburtstag - von Christus. Versprechen müssen erfüllt und Träume wahr werden."


Zum Nikolaustag

 

Er riss dem Henker das Richtschwert aus der Hand und rettete Todgeweihte. Goldklumpen soll er heimlich aufs Fensterbrett einer armen Familie gelegt und so deren Töchter vor der Prostitution bewahrt haben. Eine hungernde Stadt versorgte er mit Korn, als er ein vorbeifahrendes kaiserliches Schiff mit Getreide anhielt, damit sich erst die Armen ihren Anteil holen konnten.

Viele Legenden ranken sich um diesen Menschen. Wirklich sicher ist nur,dass Nikolaus im vierten Jahrhundert lebte und Bischof von Myra war, einer Stadt am Meer in der heutigen Türkei. Als Sohn reicher Eltern soll er, der früh Waise wurde, sein Erbe an die Armen und Bedürftigen verteilt haben. Und weil er zu Lebzeiten so vielen half, wurde Nikolaus nach seinem Tod zu einem echten „Volksheiligen“. Seefahrer, Kaufleute, Kinder und sogar Metzger wählten ihn zu ihrem Schutzpatron.

Im Mittelalter tauchte Nikolaus dann als heimlicher Gabenbringer in rotem Bischofsmantel, mit Mitra und Hirtenstab auf - so, wie wir ihn heute noch kennen. Und bis zur Reformationszeit war das Fest des heiligen Nikolaus am 06. Dezember ein Tag der großen Bescherung für kleine und große Menschen. Erst Martin Luther führte, weil er die Heiligenverehrung ablehnte, das am 24. Dezember schenkende Christkind ein.

In keiner der wirklich vielen Erzählungen über ihn wird berichtet, dass Nikolaus seine Hilfe an irgendwelche Bedingungen knüpft. Er fragt nicht lange. Er fragt nicht nach dem Glauben der Menschen oder ob seine Güte vielleicht ausgenutzt wird oder ob sich seine Hilfe langfristig rechnet. Er sieht die Not anderer und greift ein. So wird auch erzählt, wie er ein Schiff im Mittelmeer aus Seenot rettet. Er fragt nicht, ob es die Menschen überhaupt wert sind, gerettet zu werden. Er bewahrt sie einfach vor dem Untergang. So sollte es sein!

Heute ist der 06. Dezember, Nikolaustag, noch nicht ganz Halbzeit auf dem Weg durch den Advent. Es könnte der richtige Zeitpunkt, zumindest eine gute Gelegenheit sein, sich daran zu erinnern, was Bischof Nikolaus auf seine Art bezeugt hat: Dass Gott niemals fern ist. Dass Gott überall dort erfahrbar wird, wo wir Menschen einander mit Liebe begegnen, die sich niemand erst verdienen muss. Diese Liebe ist ein starkes Zeichen von Gottes Gegenwart.


Zum Beginn des Advents

 

Advent ist Sehen und Hören!
Sehen zunächst:
Das Licht in der Dunkelheit.
Ein Hoffnungsschein dorthin,
wo schon längst keine Hoffnung mehr war.
Gott kommt in die Welt wie ein Licht!
Und das will durch deine Augen in dich hinein.

Und Advent ist auch Hören:
Klang und Musik, nicht nur Gedudel,
sondern Töne, die zu Herzen gehen.
Denn nur so kommt an,
was wir uns nicht selbst sagen können:
dass da Frieden sein soll, wo Krieg ist,
Freude, wo Menschen in Angst und Sorge sind.

"Hört der Engel helle Lieder klingen das weite Feld entlang,

und die Berge hallen wider von des Himmels Lobgesang.

Gloria in excelsis Deo!"

Das klingt für diese erste Woche im Advent
schon ziemlich weihnachtlich, oder?
Gut so, finde ich, denn die Adventszeit hat ein Ziel.
Sie ist immer Weg zur Krippe, zum Stall von Bethlehem,
zum großen Gott im kleinen Kind.
Und Weihnachten wird erst,
wenn wir diesen Weg dorthin gegangen sind,
wenn die Engel so gesungen haben werden.

Advent ist Sehen und Hören und Losgehen.
Schritt für Schritt sollen wir mitgehen -
auf dem Weg zur Krippe.
Geh so, wie du es kannst:
Fröhlich und mit festem Schritt!
Ungeduldig, kaum auszuhalten, bis es soweit ist!
Oder eher langsam und nachdenklich,
mit Fragen und manchmal auch Angst im Herzen:
Wie soll das werden mit uns und der Welt?
Wie auf immer du unterwegs sein wirst,
geh los, brich auf mit den anderen,
damit euch das Hören und Sehen nicht vergeht!

"Seht ihr unsern Stern dort stehen: helles Licht in dunkler Nacht?

Hoffnung auf ein neues Leben hat er in die Welt gebracht!

Gloria in excelsis Deo!"

Ja, diesem Gott sei Klang und Wort,
der in Höhen und Tiefen bei uns Menschen ist.


Die Flötenmusik haben Paula Saborowski und Theresia Volbers am ersten Adventssonntag eingespielt.  Vielen Dank dafür!


 

Zum Ende des Kirchenjahres: Fenster zum Glauben

 

Ich liebe das Leben. Wunderbar, wenn man so etwas sagen kann. Aber genau diese, so schöne Aussage hat mir lange Zeit große, wenn nicht panische Ängste beschert. Was war, oder was ist da los?

Eigentlich ist die Antwort ganz einfach, denn man braucht wenig Phantasie, sich vorzustellen, dass man irgendwann einmal nicht mehr da ist auf dieser Welt, der geliebten Welt. Und man lässt alles zurück, was einem lieb und teuer gewesen ist, wirklich alles. Und diese Vorstellung, nur intensiv genug gedacht, machte mich panisch, immer wieder, jeweils für einige Augenblicke, aber mit riesiger Kraft. In dem Moment nützt es auch wenig, wenn das Leben von großem Gottvertrauen begleitet ist, die Angst und die Zweifel beherrschen mich.

Nun, mit fortschreitendem Leben sind meine Attacken immer weniger geworden, seltsam eigentlich, rückt doch der Moment des Abschiedes aus dieser Welt immer näher. Hat sich bei mir etwas verändert? Ich kann es nicht genau sagen, aber ich habe mich mit meinem persönlichen Ende immer mehr auseinandergesetzt. Ich überlege, wenn dieser Fall eingetreten ist, wie dann alles vonstatten gehen soll. Unter anderem habe ich mir einen Friedhof ausgesucht, auf dem ich bestattet werden möchte. Den Friedhof besuche ich häufiger, ich glaube, es tut mir gut.

Ein guter Freund hält von alledem nichts: Wenn ich gestorben bin, ist es mir egal, was mit mir ist, so die Kurzfassung seiner Gedanken.

Das teile ich so nicht. Vielleicht habe ich früher auch so gedacht, wenn überhaupt. Das Wissen über einige Dinge nach meinem Dasein auf dieser Erde hat für mich Bedeutung gewonnen. Es ist für mich so etwas wie ein Fenster mit Ausblick auf die Ewigkeit, auf eine göttliche Ewigkeit.

Dabei waren mir Fenster früher nicht so wichtig. Ob die Ferienwohnung nur mit Dachfenstern ausgestattet war, hatte mich nie gestört, anders als heute, obwohl auch ein Fenster immer nur einen beschränkten Ausschnitt in die Umgebung der äußeren Welt zulässt, und zwar immer denselben. Fenster und der Blick hinaus machen aber offensichtlich den Unterschied. Hotelzimmer mit Blick auf das Meer sind teurer als Zimmer mit Fenstern zu anderen Seiten, Fenster mit Aussicht sind allgemein anerkannt und offensichtlich wichtig.

So ist es auch mit meinem Fenster mit Aussicht auf die Ewigkeit. Und auf Gott. Auch wenn es nur einen winzigen Ausschnitt bietet, und die Aussicht auf „was geschieht dahinter“ sich nur erahnen lässt, es ist genau so wie beim Zimmer mit Meerblick: Es macht einen Unterschied.


Gedanken von Wolfgang Born.  Vielen Dank dafür!


 

Zum Ewigkeitssonntag: Niemand ist fort, den man liebt.

 

Das Frühstück ist schlimm.
Denn da fühlt er, dass er allein ist.
Drei Jahre schon, seit seine Frau gestorben ist.
Ganz plötzlich kam das damals.
Fünf Tage später die Beerdigung.
Der Gang zum Grab.
Daran gewöhnst du dich nicht, sagt er.
Sicher, es gibt Stunden, in denen man mal vergisst.
Wenn er einkauft, wie früher,
oder seine Freunde trifft.
Dann reden sie und sind zufrieden.
Oder sie tun jedenfalls so miteinander.
Abends geht es auch, da lenkt der Fernseher ab.
Aber Frühstück: das ist schlimm.
Und Friedhof.
Da steht er dann. An ihrem Grab.
Seltsam sei das, sagt er. Und immer wieder fremd.
Weil das alles so unwirklich ist.
Weil niemand ihn so kennt, wie sie.
Weil er weiß, dass sie nicht nur dort im Grab ist,
sondern auch anderswo - und ihm zuhört.
Wie auch immer sie das macht.
Vorstellen kann man sich vieles, denkt er sich,
wenn er dann dasteht und mit ihr spricht,
die er vermisst, dies und das vor sich hinmurmelt:
Neuigkeiten aus dem Haus, von den Freunden.
Und was sich so tut.
Mal mit, mal ohne Tränen.

"Niemand ist fort, den man liebt.
Liebe ist ewige Gegenwart."
Das ist ein Satz des Schriftstellers Stefan Zweig.
Worte für den Frühstückstisch,
für den Gang zum Grab,
für diesen Ewigkeitssonntag,
der uns so deutlich die Grenzen spüren lässt,
die wir erfahren haben.

Wir verlieren Menschen auf unseren Lebenswegen.
Wir verlieren sie aus dem Blick.
Wir verlieren sie,
weil es nicht mehr miteinander geht.
Weh tut es trotzdem.
Wir verlieren Menschen durch den Tod. Sie fehlen.
Und dieses Fehlen im Leben bleibt,
auch wenn die Trauer sich wandelt.

Wer einen Menschen durch Krankheit und Sterben begleitet hat,
wer dann Abschied nehmen musste,
der weiß, wie groß und schwer die Traurigkeit
auf Herzen und Sinnen lastet,
wie zerrissen und leer das Leben erscheinen kann,
wie schwer und mühevoll die Schritte sind,
die aus diesem Schmerz herausführen.

All das soll an diesem Tag Raum bekommen,
sein eigenes Gewicht haben dürfen:
die Erinnerung an unsere Toten,
deren Namen wir nennen und Kerzen entzünden,
die Lücken, die sie in unserem Leben ließen,
unsere Gefühle von Traurigkeit und Dankbarkeit.

"Niemand ist fort, den man liebt.
Liebe ist ewige Gegenwart."
In der Bibel steht ein zweiter Satz dazu:
"Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm."

Auch das sind Worte für den Frühstückstisch,
für den Gang zum Grab,
für diesen Ewigkeitssonntag,
der uns danach fragt, wieviel an Hoffnung in uns ist:
Steckt da in den Rissen und Lücken unseres
Lebens noch eine größere Sehnsucht,
die über uns hinaus nach vorne weist,
die uns einlädt zum Blick über den eigenen,
oft engen Horizont hinaus zu Gott hin,
der keine Menschenseele aus dem Blick verliert?

Auch wenn wir es manchmal so empfinden müssen,
ist der Tod niemals ein letztes Ende.
Wer stirbt, so will und weiß es mein Glaube,
fällt nicht in eine Finsternis, sondern in Gottes Hand.
Wir dürfen es uns zu Herzen nehmen, ganz fest.
Mich tröstet dieses Hoffnungsbild:
Der Gott, der uns ins Leben ruft,
der wartet auch am Ende auf uns.
Er ist ein Gott des Lebens,
weiß um unsere Geschichten
mit den guten und den schlechten Zeiten
und allem dazwischen.
Und am Ende ruft uns zum ewigen Leben.
Lass das alles heute wahr sein für dich,
sagt dieser Ewigkeitssonntag.
Als leise Ahnung oder trotzigen Hoffnungswunsch.
Mal mit, mal ohne Tränen.

Das Frühstück bleibt schlimm.
Da sieht er nicht nur, dass er alleine ist,
da fühlt er es auch.
Kurz nach dem Aufstehen, sagt er,
war früher immer das Schönste:
die Freude aufs Frühstück zu zweit.
Das ist vorbei.
Jetzt redet er mit sich.
Tut ein bisschen so, als sei sie neben ihm.
Er redet nicht viel, nur so viel,
dass er besser in der Tag kommt.
Und dass er zu ihr will, bald.
Das sagt er sich laut, nicht gemurmelt.
Dass ich sie wiedersehe, sagt er,
das erwarte ich von dir, Gott.

Amen. Ja, so soll es sein.


 

Worte sind Taten

 

Seit einigen Jahren gibt es in den Medien einen stehenden Begriff für bewusst verbreitete Falschmeldungen: „Fake News“. Wer es etwas eleganter ausdrücken möchte, nennt es „alternative Fakten“. Beide Begriffe färben das, was sie eigentlich meinen, ziemlich schön. Denn es handelt sich bei Fake News um nichts anderes als Lügen.

Am schlimmsten war es mit den „Fake News“ zur Zeit der Präsidentschaft von Donald Trump. Der streute überall dort alternative Fakten, wo ihm etwas nicht passte. Aber auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist von Anfang an von gezielter Desinformation begleitet.

Es ist schlimm, wenn man Worten nicht mehr vertrauen kann. Und es ist noch schlimmer, wenn Wahrheiten bewusst in ihr Gegenteil verkehrt  werden. „Fake News“ sind für alle Gesellschaften weltweit gefährlich, weil sie den Zusammenhalt von Menschen gefährden.

„Worte sind Taten“, schreibt der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Worte richten immer etwas an, zum Guten wie zum Schlechten. Worte können aufbauen, ermutigen, Brücken schlagen und Frieden stiften. Und sie können das Gegenteil von alldem bewirken: Hass und Misstrauen säen, Ängste schüren und Vorurteile verstärken.

„Zusammen:Halt!“ lautet das Motto der diesjährigen Friedensdekade. Doppelpunkt und Ausrufezeichen sind dabei nicht zu überhören. Zusammen HALT! sagen: Lasst die alternativen Fakten nicht ohne Weiteres in euer Denken hinein! Lasst die Lüge nicht normal werden! Denn wo Lügen sich festgesetzt haben, da bleiben sie. Da geistern sie durch die Gedanken, machen das Leben hart und schwer. Dann dauert es lange, bis die Wahrheit wieder eine Chance hat.

Darum: Zusammen Halt! Und den Blick auf das eigene Denken und Reden gerichtet: Was bewirken unsere Worte? Was tun sie anderen an? Wie ehrlich sind wir dort, wo das, was wir zu sagen haben, für uns oder andere unbequem ist? Es ist wichtig, dass wir diesen Fragen nicht aus dem Weg gehen. Weil uns alles Nachdenken über uns selbst besser machen kann. Damit „Fake News“ zwischen uns keine Chance haben.


 

Frei

 

Lea ist elf Jahre alt, als in ihrer Heimat Albanien das kommunistische Regime gestürzt wird. Sie ist noch ein Kind. Aber alt genug, um zu begreifen, dass etwas nicht stimmt. Schon immer nicht gestimmt hat. Über all die Jahre. Mit den Geschichten, die man ihr erzählt hat. Über ihre Familie. Über ihr Land. Über den Bronzeriesen mit dem freundlichen Schnurbart. Es ist der Diktator Stalin, den die Demonstranten nun umreißen und wegschleifen. Lea sieht das alles und begreift, dass sie fortan ihre Geschichte selbst erklären muss.

„Ich wollte ein Buch über Freiheit schreiben“, sagt Lea Ypi, die heute als Professorin für Politische Theorien in London lehrt. „Frei“ lautet der Titel ihres Buches. Es ist eine beeindruckende Erzählung darüber, was es bedeutet frei zu sein, wenn alles auf dem Spiel steht. Ihre Hauptperson ist die kleine Lea, die inmitten der albanischen Wende ganz in den Geschichten ihrer Familie abtaucht und so verschiedene Vorstellungen von Freiheit sammelt: Freiheit als Abwesenheit von äußerem Zwang oder Freiheit als Möglichkeit, die Dinge neuzugestalten und so das eigene Leben zu verändern. Die eigentliche Heldin des Mädchens ist dabei die Großmutter. Denn die alte Frau trägt in sich die Idee einer moralischen Freiheit, darauf bedacht, unabhängig zu sein von äußeren Einflüssen und sich so, aus freien Stücken für andere einzusetzen. Es sei, so sagt Lea Ypi heute, diese unverwüstliche Form von Freiheit als innerer Haltung gewesen, die sie an ihrer Großmutter immer bewundert habe. Von ihr habe sie lernen können, was es bedeutet, innerlich frei zu sein und sich gerade dann, wenn alles auf dem Spiel steht, menschlich zu zeigen.

Wir Menschen brauchen diese Freiheit als innere Haltung zum Glauben, Leben und Handeln. Jede Entscheidung, die wir treffen; jeder Versuch, den Weg durchs Leben zu finden; jedes Zögern dabei macht uns menschlich; unser Fragen, Überlegen und Zweifeln, die Fehler, die wir machen, und auch die Größe, andere um Rat und Hilfe zu bitten: alles das macht uns menschlich. Und frei. Gut, das nie zu vergessen, sondern es einander achtsam in Erinnerung zu rufen; gerade in dieser Zeit, in der vieles fraglich geworden ist, unsere vertrauten Gewissheiten tiefe Rissen bekommen haben.

Eines sei ihr beim Schreiben sehr bewusst geworden, sagt Lea Ypi: wie gefährdet und niemals selbstverständlich Freiheit als Gut zum Leben sei. Sie hoffe, dass viele Menschen für diese Freiheit eintreten, wo sie bedroht ist. Die russischen Rechte an ihrem Buch, sagt sie, seien gerade vergeben worden.


 

Sternstunden

 

„Nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die Menschheit.“ Erinnern Sie sich an diese berühmten Worte? Als der amerikanische Astronaut Neil Armstrong als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte, war er sich der Bedeutung dieses Schrittes für den Rest der Welt völlig bewusst. Nicht immer ist das der Fall. Auch zunächst verborgene, sogar negativ erscheinende Ereignisse können Folgen haben, die die Welt weiterbringen oder sogar ein wenig besser machen. Davon erzählt eine neue Serie in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT. Unter dem Titel „Sternstunden der Menschheit“ erinnern die Autor*innen Momente im 20. und 21. Jahrhundert, die sich heute als echte Wendepunkte der Weltgeschichte herausstellen, weil sie sich dem Mut eines Einzelnen oder den Gedanken vieler verdankten.

Die Zeitungserie wird durch eine kleine Umfrage begleitet. In ihr werden Leserinnen und Leser nach ihren persönlichen Sternstunden gefragt werden.

„Gibt es das: ein Ereignis, einen Tag, einen Menschen, durch die sich Ihr Leben fundamental verändert hat? Und wenn ja, war Ihnen das sofort bewusst oder doch erst im Nachhinein?“

Ich stelle mir vor, wie Menschen zu erzählen beginnen: vom Auszug aus dem Elternhaus ins eigenverantwortliche Leben, vom Entschluss, nicht allein durchs Leben zu gehen, sondern an der Seite eines anderen Menschen „in guten wie in bösen Tagen“, von der Geburt der Kinder und dem großen Glück, als Großeltern geliebt und gebraucht zu werden, auch von überstandenen Krankheiten und Krisen, von den letzten Abschieden im Leben und davon, wie befreiend und beglückend es sein kann, danach noch einmal Kraft zu neuen Anfängen zu finden.

Ja, es gibt in jedem Leben vom ersten bis zum letzten Atemzug so viele Wendepunkte und Sternstunden. Nicht nur die Höhepunkte gehören dazu, sondern auch die Niederlagen und Talsohlen. Wir Menschen sind das, was wir sind, nie allein aus eigener Kraft. Wir sind es immer in der Begegnung mit anderen und vor allem im Blick der Liebe und der Güte Gottes. Dieser Gott, daran glaube ich, begegnet uns mitten im Leben, an den kleinen und großen Wendepunkten. Und am Ende nimmt er mein Leben zurück in seine Hände, in denen nichts und niemand verloren ist. Aber bis dahin bleiben viele Gelegenheiten, diese Welt gemeinsam etwas besser zu machen.


 

Impuls & Gebet zum Michaelistag


Der Engel in dir
freut sich über dein Licht
weint über deine Finsternis
aus seinen Flügel rauschen
Liebesworte
er bewacht deinen Weg
lenkt deinen Schritt
engelwärts

(Rose Ausländer)

 

Gott, sende deine Engel,
dass sie alle dunklen Mächte vertreiben
und uns beschützen auf unseren Wegen.
Gott, sende deine Engel,
dass sie die zerrissenen Herzen heilen
und die niedergeschlagenen Gemüter stärken.
Gott, sende deine Engel,
dass sie deinen Frieden in alle Länder der Erde bringen
und den Mächtigen Wege weisen zur Gerechtigkeit.
Gott, sende deine Engel,
dass sie uns ermutigen,
dir mehr zu gehorchen als den Menschen,
dass sie uns dein Wort verkündigen,
damit wir deine Boten werden.

Amen.


 

Fürbitten zum 15. Sonntag der Trinitatiszeit

 

Alle eure Sorge werft auf Gott; denn er sorgt für euch.
1. Petrus 5,7

Gott der Barmherzigkeit,
du bist unsere Hoffnung.
Du sorgst dich um uns.
Du sorgst für uns.

Darum halten wir dir unsere Furcht hin.
Deine Welt braucht Frieden.
Entmachte die Kriegstreiber.
Beende das Morden.

Wir halten dir den Hunger in der Welt hin.
Die Armen fragen nach Gerechtigkeit.
Ermutige die Gerechten und schütze die,
die diese Welt zu einem besseren Ort machen.

Wir halten dir unsere Sorge hin.
Die Verzweifelten suchen neue Hoffnung.
Sei du ihnen Wärme und Licht,
sei nahe in schweren Zeiten.

Wir halten dir den Schmerz dieser Welt hin.
Kranke suchen nach Heilung,
Trauernde  fragen nach Trost.
Wisch du Tränen ab, gib neue Lebenskraft.

Du bist ein Gott der Barmherzigkeit.
Du bist unser Gott und unsere Hoffnung.
Amen.


 

Für die Mutigen

 

Den eigenen Mut kennt man nie im Voraus. Umso bemerkenswerter ist das, was gerade in St. Petersburg geschieht. Dort stellen Abgeordnete in Bezirksräten Anträge an die Duma, das russische Parlament, die dazu auffordern, Präsident Putin wegen des brutalen Angriffskrieges auf die Ukraine des Amtes zu entheben.

Einer von ihnen ist der Lokalpolitiker Nikita Juferew. Er ist 34 Jahre alt, Vater zweier Kinder und gelernter Ökonom. In einem Interview sagte er unlängst, man wolle mit diesem parlamentarischen Vorstoß der allgegenwärtigen Propaganda in Russland etwas entgegensetzen: „Alle unsere Anti-Kriegs-Schreiben sind in erster Linie an die Bürger Russlands gerichtet, die so denken wie wir - an diejenigen, die Putin und seinen Krieg nicht unterstützen. Wir wollen allen Gleichgesinnten zeigen, dass sie nicht allein sind, dass es viele gibt, die gegen den Krieg sind.“

Es ist ein couragiertes Zeichen, das die Abgeordneten aus lokaler Ebene setzen; eines, für das ihnen nun Gerichtsprozesse und lange Gefängnisstrafen drohen. Solchen Mut kann man nicht verordnen.

Deinen eigenen Mut kennst du nicht im Voraus. Nein, ich kann nicht wissen, wie mutig ist selbst wäre, wenn ich zwischen Schweigen oder Reden und Protestieren wählen müsste. Aber ich kann darüber nachdenken, wie mutig ich sein möchte. Und ich kann Gott bitten, dass ich dann, wenn es darauf ankommt, den Mut finde, das Richtige zu tun und zu sagen.

„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ Diese Zeilen hat der evangelische Theologe Bonhoeffer aus einem Gefängnis in Berlin 1943 geschrieben. Er war dort wegen Widerstands gegen das Nazi-Regime inhaftiert. Und dort im Gefängnis formuliert er eine wichtige Erfahrung: Gott wirkt in meinem Leben, auch wenn es dunkle Zeiten gibt. Gott kann aus Bösem Gutes entstehen lassen. Gott gibt uns Kraft, wenn wir sie brauchen.

Den eigenen Mut kennt man nie im Voraus. Gerade darum sollten wir für alle beten, die sich jetzt in Russland gegen den Krieg stellen. Möge ihr Mut dazu beitragen, den Größenwahn anderer zu beenden.


 

Anderswelt

 

Er nennt es einen Selbstversuch in Sachen Lüge und Wahrheit. Im vergangenen Jahr beschließt der Medienmanager Hans Demmel, für sechs Monate auf die alltäglichen Zeitungen und Nachrichten zu verzichten und nur noch das zu lesen, was oft „alternative Medien“ genannt wird. Der erfahrene Nachrichtenmann liest ein halbes Jahr lang nur Schriften und Internetseiten wie „Junge Freiheit“ und „Compact“, die als rechtsradikal gelten und teilweise vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Am Ende dieses ungewöhnlichen Versuches schreibt er ein Buch über seine Erfahrungen mit rechten Medien. Sein Titel lautet „Anderswelt“. Darin berichtet Hans Demmel anschaulich von der Aggressivität dieser Texte und Nachrichten, „von der Menge an Hass und Hetze, aus der diese dunkle Welt besteht“, wie er es formuliert.

Denen, die diese Schriften und Internetseiten lesen, gehe es nicht um Richtig oder Falsch; es gehe vor allem darum, sich von der Masse abzuheben, als etwas Besonderes zu fühlen und die „eigentliche Wahrheit“ zu kennen. Zu dieser behaupteten Wahrheit gehört oft eine große Weltverschwörung dunkler Mächte, die die Welt fest im Griff hat und ins Unglück lenken will. So denken Menschen in der „Anderswelt“, schreibt Hanns Demmel am Ende seines Selbstversuches nachdenklich.

Im Umgang mit Andersdenkenden kann sein Buch ein wichtiger Anstoß sein, finde ich, und zwar zu dem, was jeder und jede von uns zu tun imstande ist: selber  zu denken, den eigenen Kopf zu gebrauchen und zu versuchen, sich selbst über alles ein Urteil zu bilden.

Die Wahrheit, so verstehe ich Hans Demmel, hat man nicht wie einen sicheren Besitz. Man muss für sie eintreten und streiten und sich dabei auch selbst infrage stellen können: Was weiß ich? Oder was meine ich zu wissen? Könnten andere mehr Recht haben als ich? Das sind wichtige Fragen. Wir alle müssen uns und unsere Ansichten selbst überprüfen und überprüfen lassen.

Glauben wir möglichst nie, die Wahrheit zu besitzen. Aber streben wir nach ihr im Gespräch miteinander. Und bitten wir Gott um Hilfe, wenn wir unsicher sind. Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie uns leiten auf unseren Wegen. (Psalm 43,3).


Vom Geheimnis eines längeren Lebens

 

Seit drei Monaten ist er nun der älteste Mensch der Welt. Ende Mai feierte Juan Vincente Pérez aus Venezuela seinen einhundertzwölften Geburtstag. In seinem Arbeitsleben war er Landwirt und Sheriff. Er hat Streitigkeiten auf den Feldern und in Familien geschlichtet. Es sei nie langweilig gewesen, sagt Juan Pérez, der nun schon lange im Ruhestand ist und sich immer noch bester Gesundheit erfreut. Er hat die Familie wachsen sehen. Und angeblich weiß er alle Namen in seiner großen Familie mit elf Kindern und zahlreichen Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln. Überhaupt sei er gerne mit Menschen zusammen, erzählen seine Kinder, dann gäbe es viele Geschichten aus seinem Leben zu hören.

Zu seinem einhundertzwölften Geburtstag im Mai wurde Juan Pérez gefragt: „Sag uns, was ist dein persönliches Geheimnis für so ein langes und zufriedenes Lebens?“ Fünf Dinge vielen ihm ein: hart arbeiten, im Urlaub ausruhen, früh ins Bett gehen, jeden Tag einen Schnaps trinken - und Gott lieben, ihn immer im Herzen tragen.

Das sind fünf gute Lebensratschläge, auch wenn ich beim täglichen Schnaps etwas zögerlich bin. Wunderbar finde ich vor allem den Gedanken, Gott nicht zu vergessen über alldem, was wir Leben nennen, sein Worte wie einen kostbaren Schatz im Herzen zu haben.

Die Französin Madeleine Delbrel hat dafür einmal diese Worte gefunden: "Das Wort Gottes trägt man nicht in einem Köfferchen bis zum Ende der Welt. Man trägt es in sich, man nimmt es in sich mit auf den Weg. Man stellt es nicht in eine innere Ecke, in einen Winkel des Gedächtnisses, um es aufzuräumen wie in das Fach eines Schrankes. Man lässt es bis auf den Grund seiner selbst sinken, bis zu dem Dreh- und Angelpunkt, in dem sich unser ganzes Selbst dreht."
 
So soll es sein mit Gott und uns: Er möchte in uns mit auf den Weg genommen werden. Wir müssen nicht dauernd von ihm reden, wenn wir ihn im Herzen tragen. Dann werden wir etwas ruhiger im Leben, oft wohl auch zufriedener, manchmal sogar glücklich. Wir werden vermutlich nicht reicher oder gesünder sein und unsere Lasten und Sorgen werden nicht gleich leichter, aber sie können etwas erträglicher werden. Und das nicht erst nach einhundertundzwölf Jahren, sondern schon jetzt, ganz gleich, wie alt wir gerade sind.


ZUrück zum Absender

 

Haben Sie Lust auf einen kleinen Ausflug in Gedanken? Dann folgen Sie mir zur Kunstausstellung documenta fifteen nach Kassel, die in diesem Jahr zum fünfzehnten Mal seit 1955 stattfindet. Es gibt dort derzeit bitteren Streit um die Judenfeindlichkeit von Kunstwerken.  Aber darum soll es jetzt nicht gehen.

Es geht um ein anderes Kunstwerk, welches das Künstlerkollektiv „The Nest Collective“ aus Kenia mitten auf einer großen Wiese vor der Kasseler Orangerie errichtet hat. Auf der Wiese liegen viele große Stoffballen, fest verschnürt und in bunten Farben aufeinandergetürmt. Sie bilden eine große Hütte, die mit einem Wellblechdach belegt ist. Wer die Hütte betritt, der erkennt, warum die Ballen so aufgeschichtet wurden.

Das Kunstwerk des afrikanischen Künstlerkollektivs heißt „Return to Sender“, auf Deutsch „Zurück zum Absender“. Es besteht aus Altkleidern, die zu Ballen gepresst aus Deutschland in Afrika entsorgt werden sollten. Das wollen die Länder dort aber nicht; sie wollen unseren Müll nicht. Darum schicken sie ihn zurück: „Return to Sender“.

Moderne Kunst kann politisch sein. Sie kann intervenieren und Fragen an die Betrachterinnen und Betrachter stellen. Das gilt auch für dieses eindrucksvolle textile Kunstwerk. Es fragt nach unserer Art zu leben und zu konsumieren: Brauchen wir alles, was wir so einkaufen? Müssen wir wirklich alles haben, was wir haben wollen: jeden neuen Trend, jede neue Mode? Und wohin mit allen den Sachen, die wir dann nicht mehr brauchen oder haben wollen? Darf das einfach als Altkleider oder als Elektroschrott nach Afrika geschafft werden? In den Container, aus den Augen und aus dem Sinn?

Return to Sender, zurück zum Absender: Die Altkleider-Hütte auf der Wiese an der Kasseler Orangerie kann sehr nachdenklich machen: Andere Länder sind nicht unsere Mülleimer. Wir können und dürfen nicht weiter auf Kosten anderer leben. Je weniger wir für uns selbst wollen, desto mehr bleibt für andere. Daran erinnern auf der documenta fifteen noch andere Kunstwerke aus dem globalen Süden.

Wir alle haben nur diese eine Welt. Die Bibel versteht sie als Gottes Gabe, die allen Menschen gilt: in Nord und Süd, in Ost und West. Wer diese Schöpfung liebt, der soll sie achten. Und wer erst einmal angefangen hat zu fragen, was er oder sie wirklich braucht, erkennt: Es kann von allem weniger sein, damit mehr bleibt für die, die weniger haben.


Bilder des Kunstwerkes „Return to Sender“ kann man hier ansehen.


Geist der Gerechtigkeit

 

Zwei sehr alte Menschen standen in den vergangenen Monaten in Deutschland vor Gericht. Eine Frau aus Itzehoe, 97 Jahre alt. Und ein Mann in Brandenburg an der Havel, 101 Jahre alt. Sie war früher Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig. Er war ein SS-Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen nördlich von Berlin. Beide Prozesse standen im Licht einer lebhaften, öffentlichen Auseinander-setzung. Kann 77 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur noch Recht gesprochen werden?

Beide Angeklagte haben sich gegen die Anklage gewehrt. Entweder wollten sie nur Befehle befolgt haben oder sie bestritten, von den schrecklichen Ereignissen in den Lagern überhaupt etwas gewusst zu haben. Während das Urteil gegen die 97-Jährige noch aussteht, ist der hochbetagte SS-Wachmann aus Brandenburg vor wenigen Tagen wegen Beihilfe zum Mord in 3500 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Kaum jemand rechnet damit, dass die Angeklagten aufgrund ihres hohen Alters in Haft müssen.

Unumstritten sind die Prozesse bei den geladenen Zeugen und Nebenklägern. Auch sie sind inzwischen hochbetagt und doch tief berührt davon, endlich vor einem deutschen Gericht Gehör zu finden. Einer sagt: „Ich mache das für meinen Vater, meine Mutter, meinen Bruder. Sie alle sind im Lager Stutthof ermordet worden.“ Ein anderer Nebenkläger sagt, die Prozesse seien ein Sieg des Rechtsstaats, ein Sieg der Moral. Viele der Zeugen und Nebenkläger sagen, sie wollen mit ihrer Geschichte ernst genommen werden. Es gehe ihnen nicht um Vergeltung, sondern um den Geist der Gerechtigkeit.

Gerechtigkeit - das ist ein zentraler Begriff der jüdisch-christlichen Überlieferung. Gott ist gerecht, bekennt die Bibel als Buch des Glaubens an vielen Stellen, „seine Gerechtigkeit steht wie die Berge und sein Recht wie die große Tiefe“ (Psalm 36,7). Im Glauben an Gottes Gerechtigkeit kann große Zuversicht und tiefer Trost liegen. Bei Gott wird nichts ungesühnt und nichts unbelohnt bleiben.

Ich denke, darum geht es auch bei den beiden weltlichen Prozessen. Die Richter bemühen sich, Licht in dunkle Zeit zu bringen, gerechte Urteile zu sprechen über begangenes Unrecht. Für die Opfer sind die Prozesse keine Rache. Sie bleiben Opfer, aber sie erleben, dass ihnen der Geist der Gerechtigkeit widerfährt; so, als trete Gott selbst an ihre Seite.


Behalte die Gabel!

 

Als der Arzt ihr mitteilte, dass sie höchstens
noch drei Monate zu leben hätte, beschloss sie,
sofort alle Details ihrer Beerdigung festzulegen.
Mit dem Pfarrer besprach sie, welche Lieder gesungen
und welche Bibeltexte gelesen werden sollten.
Sie erzählte aus ihrem Leben und sagte dann:
Da gibt es noch eine wichtige Sache:
Ich will mit einer Gabel in der Hand begraben werden!

Eine Gabel!? Der Pfarrer konnte seine Verwunderung nicht verbergen:
Darf ich fragen, warum?
Das will ich Ihnen erklären, sagte die Frau lächelnd:
Ich war in meinem Leben zu vielen Abendessen eingeladen.
Und ich habe immer die Gänge am liebsten gemocht,
wo diejenigen, die abdeckten, gesagt haben:
‚Die Gabel kannst du behalten!‘
Da wusste ich, dass noch etwas Besseres kommt.
Nicht nur Eis oder Pudding, sondern etwas Richtiges!
Und wenn ich gestorben bin, dann will ich,
dass die Leute auf mich schauen und ich liege da
mit einer Gabel in der Hand.
Da werden sie sich fragen:
‚Was hat es denn mit der Gabel auf sich?‘
Dann grüßen Sie sie von mir und sagen ihnen,
dass sie auch die Gabel behalten sollen.
Es kommt noch etwas Besseres.

Aber was könnte das sein?
Stell dir das mal vor, sagt Jesus:
Da veranstaltet jemand ein großes Festessen.
Eine erste Einladung ist bereits ergangen:
Save the date! Haltet euch bereit!
Und als der Festtag da ist, folgt eine zweite Einladung
unmittelbar vor Beginn des Essens am Abend.
Aber alle Eingeladenen winken ab.
Sie haben schon etwas Anderes, Interessanteres vor:
den neu erworbenen Besitz besehen, die Nutztiere prüfen,
mit der Frau ihres Lebens zusammen sein.
Alle sagen ab, einer nach dem anderen:
Heute Abend leider ohne mich.
Du wirst verstehen … andere Pläne.
Bitte entschuldige mich!

Ja, das gibt es. Und jeder und jede kennt es:
Manchmal greift dieses Leben so stark nach uns,
dass keine Zeit bleibt für den Blick darüber hinaus,
dass wir wie taub sind für die Botschaft,
dass das hier und jetzt nicht schon alles ist.
Das Beste kommt nicht erst irgendwann danach.
Irgendwann ist jetzt:
in deinen Erfolgen und Geschäften,
im Weiter und Voran im Beruf, in der Schule, im Sport,
in der Liebe, für die du alles geben würdest.
Dann hast du vielleicht an die Sache mit der Gabel
längst schon einen Haken gemacht und zwar
lange bevor du deinen Löffel abgeben musst.


Ich höre auch die anderen Stimmen.
Die sagen: Ich merke nichts davon,
dass ich zum Fest des Lebens eingeladen bin!
Das Leben ist für mich alles andere als ein Fest!
Es ist ein Trauerspiel! Es springt oft so hart
mit mir um, dass ich kaum über die Runde kommen.
Dass Gott ausgerechnet mir den Tisch decken will?
Davon habe ich noch nichts gemerkt!
Manchmal weiß ich nicht,
was morgen auf den Tisch kommen soll.
Hör mir auf mit der Gabel, wenn der Teller leer bleibt!

Ja, man kann diese Geschichte sehr verschieden hören.
Aber stell dir das mal bitte vor, sagt Jesus:
Da ist ein Mensch, der macht ein großes Abendmahl
und lädt viele dazu ein. Und als der Gastgeber erfährt,
dass keiner der Eingeladenen kommen will,
da schickt er seine Leute wieder los, weiter hinaus:
Geht auf die Straßen und Gassen der Stadt
und führt die Armen und Verkrüppelten und Blinden
und Lahmen herein. Geht hinaus auf die Landstraßen
und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen,
dass mein Haus voll werde.

So ist dieses Geichnis, schreibt der Bibelforscher
Eduard Schweizer in seiner Auslegung:
Es ist eine weit offene Einadung.
Sie gilt unbedingt. Und sie gilt allen.
Sie gilt dir und mir. Auch wir sind hier gemeint:
die Aufrechten, Gradlinigen und Leistungsbewussten,
die durchaus um die eigenen Stärken wissen,
die Freude an ihren Erfolgen haben;
aber auch die anderen sind eingeladen:
die sich sich längst lahm gelaufen
und wundgerieben haben am Leben,
denen keiner den Tisch decken will.
Allen gilt: Kommt, denn es ist alles bereit.
Schmecket und sehet,
wie freundlich der Herr ist!

Etwas wird anders sein bei diesem Mahl:
Wer sich hier zu Tisch bitten lässt, der wird sich
über mehr freuen dürfen, als nur über sich selbst.
Und we hier Platz nimmt, der muss nicht länger
an sich allein verzweifeln!
Eine Gesellschaft, die selbst erworbene Freude
für den höchsten Wert hält, die wird sehr schnell
blind für gemeinsame Freude.
Die größte Freude aber, die uns Menschen
verbinden kann, ist die Freude in Gott.
Wenn ein Funke des göttlichen Lebens
auch auf uns und andere fällt und wir spüren können:
Wir sind nicht allein!
Darum, sagt Jesus:
Mach bitte keine halben Termine,
wenn du diese Einladung hörst.
Mach nicht den Vorbehalt:
Ja, ich komme, wenn nichts dazwischen kommt.
Behalte die Gabel fest in deiner Hand!
Ich war in meinem Leben zu vielen Abendessen eingeladen, erzählt sie.
Und ich habe immer die Gänge am liebsten gemocht,
wo diejenigen, die abdeckten, gesagt haben:
‚Die Gabel kannst du behalten!‘
Da wusste ich, dass noch etwas Besseres kommt.
Und wenn ich gestorben bin, dann will ich,
dass die Leute auf mich schauen und ich liege da
mit einer Gabel in der Hand. Da werden sie sich fragen:
‚Was hat es denn mit der Gabel auf sich?‘
Dann grüßen Sie sie von mir und sagen ihnen,
dass sie auch die Gabel behalten sollen.
Es kommt noch etwas Besseres.

So wird es sein, wenn Gott einlädt, sagt Jesus:
Wenn du Platz nimmst und dich inmitten einer
fröhlichen Gesellschaft wiederfindest,
in einer bunten Tischgemeinschaft,
deren Gastgeber Gott selbst ist.
Selig sind, die ihr Brot gemeinsam essen in Gottes Reich.
Amen.

Gebet

Du, Gott, hast gute Gedanken für uns.
Du verheißt uns die Fülle des Lebens.
Du lädst uns ein an deinen Tisch.
So lass uns deine Nähe spüren
in unserem Alltag, unserem Tun und Lassen.
Gib uns Mut umzukehren, wo es nötig ist.
Gib uns Geduld weiterzugehen,
wo wir auf guten Wegen sind.
Du, Gott, hast gute Gedanken für uns.
Dir sagen wir in der Stille,
was wir in Herzen und Gedanken bewegen ..
Amen.


Andere wahrnehmen

 

„Kennen Sie Ihren Vater? Wissen Sie, wer er wirklich gewesen ist?“ Mit diesen Fragen muss sich die Lehrerin Ilaria auseinandersetzen. Ihr Vater stirbt hochbetagt und plötzlich ist die Familie viel größer geworden, als sie bisher gedacht hatte. Denn eines Abends steht ein junger Äthiopier auf den Stufen zu ihrer Wohnung in Rom. Und er behauptet, dass ihr verstorbener Vater sein Großvater gewesen sei. „Alle außer mir“ heißt der Roman der Schriftstellerin Francesca Melandri. Sie erzählt auf großartige Weise die Geschichte von Ilarias Familie über drei Generationen hinweg: von der Kolonialzeit in Afrika über den italienischen Faschismus und den zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart hinein.

 „Kennen Sie Ihren Vater? Wissen Sie, wer er wirklich gewesen ist?“Die Frage Ilarias zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden: Wie nehmen wir Menschen einander wahr? Wie finden wir heraus, wer andere wirklich sind? Und was leitet uns dabei? Das Bild, das Francesca Melandri mit ihrer Erzählung vom Menschsein zeichnet, ist der biblischen Wahrnehmung dieser Welt recht nahe: Für jeden und jede von uns ist die Wirklichkeit, in der wir leben, nie dieselbe. Wir bleiben einander in unseren Lebensgeschichten immer auch Rätsel. Wir wissen nie alles über uns und andere, egal wie nah wir uns sein mögen. Wir Menschen leben in einer Bruchstück-Welt, in der uns das Ganze ein Rätsel bleibt.

Dazu passt ein Bild, das der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief benutzt: Er redet von einem dunklen Spiegel, in den wir jetzt schauen und nur bruchstückhaft erkennen, was dereinst offen und klar zutage liegen wird. Paulus schreibt: „Jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild. Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, aber dann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.“

„Wenn ein Mensch stirbt, so geht eine ganze Bibliothek in Flammen auf.“ Das sagt die Lehrerin Ilaria am Ende ihrer familiären Spurensuche. Sie hat in der Bibliothek ihres Vaters einige Bücher gefunden, die sie bisher nicht kannte.

Wie ist das eigentlich mit unseren Lebens-Bibliotheken? Wer kennt die Bücher, die zu uns gehören? Und kennen wir sie eigentlich selbst schon alle? Wer darauf Antwort sucht, der darf mit Paulus darauf vertrauen, dass auch wir einst so erkannt sein werden, wie Gott uns schon jetzt sieht und kennt.


Liebe grenzenlos

 

Es gibt Menschen, deren Wagemut so groß ist, dass er einem kurz den Atem verschlagen kann. Vor etwas mehr als zwei Jahren haben die beiden geheiratet. Sie stammt aus Indien, er aus Vietnam. Es ist eine große Liebe, für immer Ja!

Und dann bricht die Corona-Pandemie über das Paar herein. Da sie beide gerade in ihren Heimatländern sind, werden so voneinander getrennt. Keine Chance auf ein Visum und einen Weg zueinander von Vietnam nach Indien und andersherum.

Schließlich werden Sehnsucht und Verzweiflung so groß, dass er einen wagemutigen Plan erdenkt: Mit dem Flugzeug und dem Bus reist er von Vietnam nach Phuket in Thailand. Dort kauft er ein Schlauchboot, packt einige Sachen ein und will von dort aus nach Indien paddeln. Ja, richtig gehört: paddeln! Das sind zweitausend Kilometer übers offene Meer. Er schafft es nicht. Das Meer ist zu stark. Hohe Wellen setzen ihm schnell eine Grenze. Er kommt nur vierzehn Kilometer weit, bis ihn Fischer gerade noch rechtzeitig vor dem Golf von Bengalen finden und retten. Gott sei Dank!

Schnell geht die Geschichte vom verzweifelten Mut des Mannes in den Medien um die Welt: „Was für eine verrückte Idee!“, schreiben die einen. „Wie romantisch und bedingungslos verliebt“, sagen andere.

Dass man in einem Schlauchboot von Thailand bis nach Indien paddeln kann, war von vornherein aussichtslos. Aber darum geht es hier wohl auch gar nicht. Es geht darum, dass ein Herz und Geist es gewollt haben ohne jedes Zaudern. Nur mit Boot und Paddel, einer Flasche Wasser und zehn Packungen Nudeln im Gepäck, wie zu lesen war. Herz und Geist kamen viel weiter als die zurückgelegten vierzehn Kilometer. Sie hatten längst jede Welle überwunden. Ein Herz, das liebt, weiß von keiner Grenzen. Es weiß etwas anderes: Dass die Liebe stark ist. Stärker als Wind und Wellen. Stärker als Angst und Agonie.

Wir haben Pfingsten gefeiert, das Fest der Begeisterung. Es erzählt davon, wie Gottes Geist Herzen und Köpfe frei macht, mutlose Menschen auf die Beine stellt und miteinander in Bewegung bringt. Und dann auch, wie sehr das alles auf andere ansteckend und begeisternd wirkt. Zwei Sätze gehören für mich zum Pfingstfest. Den ersten schreibt der Apostel Paulus: „Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit!“ Und dazu gehört der andere Satz ebenfalls aus der biblischen Tradition: „Wo die Liebe ist, da ist Gott niemals fern!“ Denn Gottes Geist wirkt wie die Liebe grenzenlos.


Wo fängt der Himmel an?

 

Kennen Sie die Geschichten von Piggeldy und Frederick? Die beiden sind zwei Schweinebrüder. Nicht nur Kinder lieben ihren Geschichten voller Lebensklugheit, die das Autorenpaar Elke und Dieter Loewe liebevoll erzählt.

Der Jüngere, Piggeldy, fragt seinem großen Bruder Frederick Tag für Tag Löcher in den Bauch: Was ist Liebe? Was ist Glück? Und auch: „Wo fängt der Himmel an?“ Wie immer antwortet Frederick: „Nichts leichter als das. Komm mit!“ Und Piggeldy folgt Frederick, denn der weiß, wo es langgeht: „Wenn die Straße aufhört, dann fängt der Himmel an, und bis dahin braucht man Geduld.“

Also ziehen die beiden los, die Straße hinunter. Sie gehen und gehen, bis der Kleine schon ganz erschöpft ist. „Bald sind wir da“, tröstet der Große – doch dann bleiben die beiden stehen: Da ist ein großes Wasser zwischen ihnen und dem Himmel. Das Wasser ist kalt und Piggeldy kann nicht schwimmen. So entscheidet Frederick, dass sie eben nicht dahin gehen können, wo der Himmel anfängt, sondern besser nach Hause.

„Wenn die Straße aufhört, dann fängt der Himmel an, und bis dahin braucht man Geduld.“ Wie oft sagen auch wir das: Bis dahin noch, aber dann! Dann mache ich, dann glaube ich, dann liebe ich, dann ändere ich mich! Und eigentlich wissen wir es besser: Die Straße hat nie ein Ende. Irgendein Wasser kommt immer. Oder es fehlt der Mut zum Sprung hinein in die große Veränderung. Oft muss der Himmel warten! Oder nicht?

Gestern war Christi Himmelfahrt: Jesus nimmt Abschied von den Seinen. Und bleibt ihnen doch auf Abstand verbunden. Im Wort und im Geist, der längst verheißen ist. Christi Himmelfahrt trägt ein großes Fragezeichen mit sich: Wo ist dieser Christus nun? Aufgefahren in den Himmel oder doch bei uns? Oder mit Piggeldy gefragt: Wo fängt der Himmel an?

Christi Himmelfahrt sagt: Der Himmel, in den Jesus auffährt, ist immer nur eine Hand breit weit entfernt, Er geht dort auf, wo wir uns mit unseren Glaubensgeschichten hineinlesen in die alte Erzählung von Ende und Neubeginn, von Abschied und Aufbruch, von Leere und neuem Raum für Gottes Geist. Da fängt der Himmel an!

Gebet nach dem Himmelfahrtstag

Gott, du bist überall.
Du wohnst im Himmel und auf der Erde.
An jedem Ort können wir dir nahe sein.
An jedem Ort können wir deine Kraft spüren.
Hier und am Ende der Welt.
Danke dafür!
Amen.


Auf die Gnade achten

 

Manchmal brauchen wir Menschen, die ihre Stimme mahnend erheben und uns an leicht zu Vergessendes erinnern. So ein Mahner, meist ein unbequemer, ist Ulrich Schneider. Zu seinen Aufgaben als Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Deutschland gehört es, auf die Verteilung der Güter in Deutschland zu achten und dann eben auch auf Armut hinzuweisen.

Schon zum Jahreswechsel hat sich Ulrich Schneider deutlich zu Wort gemeldet. Die lange Corona-Pandemie habe, so mahnte er, vielen finanziell so zugesetzt, dass es bei armen Menschen einen neuen Höchststand gebe, nämlich 13,4 Millionen Mitbürger*innen, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssten. Diese Armut betreffe vor allem Familien, die nicht mehr genug Geld für das alltägliche Leben hätten.

Dass Menschen unverschuldet arm sind, hat es immer gegeben. Darum gehört die Mahnung, sich um die Armen zu kümmern, zu den wichtigsten Geboten der Bibel überhaupt. Arm sein, das darf unter euch nicht sein, mahnen schon die Propheten im Namen Gottes. Und auch Jesus erwartet, dass reiche Menschen ihren Besitz nicht nur als eigenen Verdienst, sondern auch als Gnade anerkennen, die ihnen Gott zuteilwerden ließ. Solche Gnade erwidert man am besten mit Dankbarkeit, weiß die Bibel, die einen dann zum Weitergeben und Teilen bringt.

Ich denke, zu beidem können wir uns nicht oft genug ermahnen lassen: Achtet auf die, die nicht oder nicht mehr mitkommen! Und achtet auch auf die Gnade, die euch selbst zuteilwurde: Womit und worin sind wir vielleicht begnadet? Und: Könnten wir davon etwas weitergeben und teilen – sei es Zeit oder Aufmerksamkeit, sei es Solidarität oder Geld. Gnade kann so vieles sein. Manche Menschen sind reich an Gaben, auch wenn sie nicht reich sind an Geld.

Im Lukasevangelium steht dazu ein starker Jesusatz, der wohl auch Ulrich Schneider, dem unbequemen Mahner, gefallen dürfte: „Kein Mensch lebt davon, dass er viele Güter hat!“ (Lukas 12,15). Aber viele könnten besser leben, wenn sie ein wenig mehr teilhaben dürften an den Gütern anderer.


 

Einfach mal Luft holen

 

Es gibt Wettbewerbe, von denen man erst erfährt, wenn ihre Sieger oder Siegerinnen in der Zeitung steht. So wie dieser Wettbewerb: Pia Zumkley wurde gerade zu besten Rezeptionistin der Welt gekürt. Die 26jährige arbeitet am Empfang in einem Hotel im bayrischen Berchtesgaden.

Der Wettbewerb, von dem ich bislang nicht wusste, dass es ihn gibt, wird jährlich durchgeführt. Pia Zumkley hatte sich wie viele andere mit einem Video beworben und musste bei der Prüfung einige Rollenspiele durchführen. Dabei ging es um das Verhalten gegenüber Gästen mit außergewöhnlichen Wünschen oder Beschwerden. In diesen Rollenspielen bewies sie, wie es im Urteil der Jury heißt, ein außergewöhnliches Fingerspitzengefühl im Umgang mit herausfordernd schwierigen Gästen.

Und die gibt es wirklich, sagt die weltbeste Rezeptionistin, die ihren Beruf für einen unterschätzten Traumberuf hält, wie sie betont. Es gibt tatsächlich Gäste, die zur Rezeption kommen, um sich über das Wetter zu beschweren: Bei Nebel sähe man die Berge nicht! Oder andere, die die Straßen zum Hotel für viel zu kurvig halten und das heftig beanstanden. Dann sei es am wichtigsten, so Pia Zumkley, dass man sich in die andere Person einfühlt, dass man emphatisch ist und zu verstehen versucht, was los ist.

Meistens sei ja etwas ganz anderes los in den Menschen, die sich gerade lautstark beschweren. Diese Erfahrung kann man auch außerhalb von Hotelrezeptionen machen. Oft sitzt anderer Ärger viel tiefer, muss einfach mal heraus und sucht sich dann den nächstbesten Ablass - und wenn es der Nebel in den Bergen ist oder die vergessene Hauswoche im Mietshaus.

Im Hotel in Berchtesgaden weiß Pia Zumkley, was dann helfen kann: Erst einmal Luft holen, bevor man losschimpft. Und zu sich selbst sagen: Die anderen, bei denen ichjetzt meinen Ärger abladen will, können oft gar nichts für meinen eigentlichen Ärger. Also dürfen sie ihn auch nicht abbekommen! Das sind wertvolle Gedanken, finde ich. Viel öfter sind der sanfte Mut und der offene Blick erfolgreicher als ein rauer und lauter Ton. Wer das noch einmal biblisch hören will, der hört diese zwei Sätze: den ersten aus dem Jakobusbrief: „Sei langsam zum Zorn!“ Und den zweiten aus dem Munde Jesu: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“


 

Blau Gold Geist

 

Heute mache ich Kunst!, sagt Ida, vier Jahre alt.
Im Kindergarten unserer Gemeinde ist Projekttag.
Ostern liegt hinter uns und Pfingsten voraus,
eine gute Zeit, um sich einen Vormittag lang
mit Gottes Geist  zu beschäftigen:
Wie denkst du dir den?

Im Morgenkreis haben wir von diesem Geist gehört,
der schon am Anfang der Schöpfung da war
und das Leben aus dem Chaos rief,
der Menschen erfüllt und Herzen stark macht,
der in der Taufe jedem Menschen versprochen ist
als Gottes Lebenskraft in dir und durch dich für Welt.

Am Ende der Morgenrunde machen sich
die Kinder auf den Weg ins große Kita-Haus.
Dort gibt es vom Dach bis ins den Keller
viel zu erleben und entdecken:
eine Bibelwerkstatt, eine Klanggeschichte
und im Werkraum: das Malerinnenatelier.
Die Erzieherinnen haben alles bereitgestellt:
einen Schuhkarton, darin ein weißes Blatt Papier,
Schalen mit Farben und große Glasmurmeln.

Heute mache ich Kunst!, sagt Ida und löffelt
ganz vorsichtig blaue Farbe in ihren Karton:
Nicht zu viel, ganz wenig, soll ja nicht schmieren!
Und dann lässt sie die große Glasmurmel
in den Karton gleiten und bewegt diesen hin und her.
Die Murmel zieht ihre Bahnen im Blau,
verteilt Spuren übers Papier.

Gottes Geist ist wie der Himmel, sagt Ida,
aber er ist nicht nur blau!
Darum nimmt sie etwas Weiß, später auch noch
ein leuchtendes Gelb und lässt die Murmel kreisen.
Das Bild im Karton wird bunt und bunter.
Ein echtes Kunstwerk!
Am Ende hängen viele bewegte Bilder
an einer langen Leine in der Kirche.
So kinderleicht kann es sein mit Gottes Geist,
wenn die Phantasie zu malen beginnt!

Blau Gold Geist! Dieser Dreiklang war plötzlich
irgendwie da, liebe Felicitas Nicolai-Kujawa,
im Gespräch zwischen uns, mitten in der zweiten Corona-Welle.
Blau Gold Geist!
Ja, mich hat die intensive Farbigkeit Ihrer Bilder sofort gepackt:
die Tiefe der Blautöne,
das Aufscheinen des Goldenen darin -
fließend und leuchtend, irgendwie in Bewegung
wie eine Lichtstraße auf dem Wasser,
auf dem Sie so gern unterwegs sind
und das Ihnen so viel Erleben liefert
für das eigene künstlerische Tun.

Sie werden ja selbst noch sprechen zu Ihrer Art
der Malerei und dem Bilderzyklus in neun Teilen,
den wir im Magni-Chorraum zeigen dürfen.
Mögen viele Menschen Freude daran haben!
Und auch aufmerksam werden für die spirituelle
Dimension, die in Ihren Bildern zu entdecken ist.
Einen Bibelvers haben Sie selbst ganz bewusst
der Bilderfolge vorangestellt, einen Satz aus
der Schöpfungserzählung des ersten Mosebuches:
Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.

Ja, es ist Gottes Geist, der von Anbeginn weht.
Der über den Chaoswassern schwebt
und aus dem Nichts das Sein erschafft.
Der das Volk Israel herausruft aus Sklaverei.
Und am Ende Tote zum Leben erweckt.
Der die dicksten Mauern aufbricht,
um uns Menschen frei zu machen von dem,
was uns einsperrt und niederdrückt:
Zweifel und Angst, Gewalt und Tod.

Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit!
Das schreibt der Apostel Paulus im 2. Korinther.
Dieser Geist ist seine Gegenwart unter uns,
die uns dort sucht und findet,
wo wir ganz Menschen sind:
oft begrenzt in unseren Möglichkeiten,
aber doch willens, das, was in uns gelegt ist,
für Gottes Reich in unserer Welt einzusetzen.
Es gibt Vieles im Leben,
da lässt uns das, was uns widerfährt,
klein und ängstlich werden:
die Sorge um die eigene Gesundheit,
der nicht endende Krieg in der Ukraine
mit seiner unsagbar rohen Gewalt,
die Bedrohung unseres Lebensraums Erde.

Aber: Trauen wir uns überhaupt noch zu, das Gegenteil zu denken?
Dass wir nicht von guten Geistern verlassen sind?
Dass Gottes Geist auf uns aus ist,
uns dazu bringen will, Menschen zu sein
mit Herz und Vernunft, in Frieden mit anderen?

Der Geist Gottes ist voller Gegensätzlichkeit,
schreibt der Theologe Fulbert Steffensky:
ein Geist der Gewissheit und der Unterbrechung;
ein Geist der Beheimatung und ein Geist
der Vertreibung aus alten Einrichtungen.

Dieser Geist wohnt gerne zwischen den Zeilen;
dort, wo die Dinge eigentlich unsagbar sind.
Er beflügelt unsere Phantasie.
Er zeigt sich in Bildern - Blau Gold Geist -
und sprengt sogleich ihren Rahmen.
Er sucht unsere Grenzen und führt uns über sie hinaus
als Kraft, die Welten verändern kann. Amen.


Der Bilderzyklus Blau Gold Geist von Felicitas Nicolai-Kujawa ist bis zum 30. Juni im Magni-Chorraum zu sehen. Weitere Informationen zur Ausstellung finden sich hier.


 

Zum Florianstag

 

Davyon ist erst elf Jahre alt, aber er ist jetzt schon ein Held. Zwei Menschen hat der Junge aus dem US-Bundesstaat Oklahoma, das Leben gerettet - und das an einem einzigen Tag.

Am Morgen in der Schule sieht Davyon zunächst einen Mitschüler, der aus Versehenden kleinen Deckel seiner Wasserflasche verschluckt hat.  Nun bekommt er keine Luft mehr und gerät in Panik. Davyon erlöst den Keuchenden. Mit einem beherzten Griff drückt er den Fremdkörper aus dessen Atemwegen heraus. Einmal Held!

Abends dann ist Davyon mit seiner Mutter unterwegs, als er Rauch in einem Haus bemerkt. Er geht sofort näher heran und schlägt Alarm. Fünf Menschen können sich selber aus dem brennenden Haus retten. Nur eine alte Dame, das sieht Davyon, ist wegen ihrer Gehilfe nicht schnell genug. Ihr hilft der Junge aus dem Treppenhaus. Ein zweites Mal Held! Die Feuerwehrleute staunen nicht schlecht. Ein paar Tage später machen sie den mutigen Jungen sogar zum Ehrenmitglied.

Zum Helden kann man sich nicht selber machen. Davyon ist einfach aufmerksam und achtet auf andere. Außerdem wolle er später Rettungssanitäter werden, wie er hinterher einer Zeitung erzählt. Und dann sagt er etwas Beeindruckendes: „Ich will nicht, dass ich so viel Aufmerksamkeit bekomme. Ich habe nur getan, was ich tun musste.“

Das ist ein wirklich heldenhafter Satz, finde ich. Ich musste dabei an die vielen Kinder und Jugendlichen denken, die in den Freiwilligen Feuerwehren unserer Stadt zunächst spielerisch und dann immer professioneller an das Handwerk von freiwilligen Feuerwehrfrauen und Feuerwehrmänner herangeführt werden. Um dann das tun zu können, was getan werden muss, wenn der Alarm zum Einsatz ruft: hingehen und hinausfahren, dorthin, wo andere lieber weglaufen. Um dann im eingespielten Team denen beizustehen, die in Not geraten sind.

Heute ist Florianstag. Als Gedenktag im ökumenischen Festkalender lädt er ein zum Dank an alle Menschen, die sich in Feuerwehren und Rettungs-diensten ehrenamtlich und beruflich engagieren. Die oft wie Davyon nach einem Einsatz sagen: „Ich habe nur getan, was ich tun musste. Nicht mehr.“ Ja, sicher, aber auch nicht weniger. Danke dafür.


 

Weltglücksbericht

 

Manchmal schleicht sich eine gute Nachricht in die derzeit vielen düsteren Meldungen und Gedanken hinein, zum Beispiel diese: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben vor einigen Wochen den sogenannten „Weltglücksbericht 2022“ veröffentlicht. Die renommierte Umfrage des US-amerikanischen Gallup-Instituts erforscht die Glücksempfindungen von Menschen weltweit; immer aus den vergangenen drei Jahren - jetzt also aus 2019 bis 2021.

In dieser Zeit, so erklärt die Studie, ist es auf den ersten Blick wieder wie in den vergangenen Jahren: Die glücklichsten Menschen der Welt wohnen im Norden Europas: in Finnland, Dänemark und Island. Es folgen die Menschen in der Schweiz und den Niederlanden. Deutschland belegt Platz 14 der Länder-Glücksliste und hat im Gegensatz zu den Jahren zuvor einen Platz verloren. Große Sprünge nach vorne, so kann man lesen, haben Serbien und Rumänien gemacht.

Die wirklich gute Nachricht verbirgt sich jedoch an einer anderen Stelle im Weltglücksbericht. Dort vermerken die Forscher gerade für die Dauer der Corona-Pandemie etwas Überraschendes: einen deutlichen Anstieg von sogenannten „freundlichen Handlungen“. Die Hilfe für Fremde, das freiwillige Engagement und die Spendenbereitschaft seien in 2021 in allen Teilen der Welt stark gestiegen. Und dann, zum Schluss, steht im Bericht eine überraschende Einsicht: Die gestiegene Hilfe zeige, dass Menschen gerade in Notzeiten mit großem Mitgefühl reagierten und anderen, die in Not sind, helfen!

Ich verstehe die Weltglücksforscher so: In Zeiten allgemeiner Not sind wir Menschen empfindsamer für die Nöte der anderen. Selbst dann, wenn wir selber vielleicht gerade keine Not haben. Das ist einerseits verblüffend und andererseits ist es schön. Denn Fürsorge hält immer lebendig, die Sorgenden und die Besorgten.

Wer fürsorglich lebt, zeigt in dieser Welt, wie die Liebe lebendig bleibt. Immer. Und das ist ein wirklich großes Glück in Zeiten tiefer Not.


 

Endlich Frühling!

 

„Das Schöne am Frühling ist, dass er immer gerade dann kommt, wenn man ihn am dringendsten braucht.“ Das schreibt der Schriftsteller Jean Paul. Er dürfte das Lebensgefühl vieler Menschen treffen, die nach der dunklen und starren Winterzeit ungeduldig darauf gewartet haben, dass es endlich Frühling wird.

Wer in diesen Tagen nicht nur Augen für das satte Grünen und Blühen hat, sondern auch im Takt des Kirchenjahres unterwegs ist, der weiß sich noch dem Osterfest nahe mit seiner Botschaft von Jesus, der nicht im Tod bleibt, weil Gottes Sorge weiter reicht. Das, was die Freund*innen Jesu damals erlebten und dann weitertrugen, fordert einen völlig neuen Blick auf das Leben.

Ostern sagt: Der Tod hat nicht das letzte Wort, sondern Gott, der das Leben will. Ostern sagt auch: Nichts muss bleiben, wie es ist. Dort, wo Gott ins Leben einbricht, da versetzt er Menschen in heilsame Unruhe und gibt ihnen zugleich die Gewissheit, dass sie sich vor nichts in der Welt fürchten müssen.

Mit dem Ostermorgen ist die alte Hoffnung neu in der Welt, gerade recht, weil wir sie dringendster brauchen denn je: Hoffnung auf mehr Leben als das, was ist. Hoffnung auf den Gott, der uns aus den dunklen Tälern führt. Hoffnung auf Leben in Liebe. Wer das erfährt, der weiß, was Auferstehung bedeutet: Gott ist größer als alle Mächte dieser Welt.

Endlich Frühling! Ostern ist kein Frühlingsfest, aber seine frohe Kunde passt doch zum Frühling als Jahreszeit des neuen Anfangs. Und zu den Frühlingsgefühlen tritt hier und dort auch das Bedürfnis nach Frühjahrsputz: endlich klar Schiff machen, aufräumen im Lebensalltag.

Umdenken. Neudenken. Die Dinge anders sehen. Zu diesem inneren Frühjahrsputz sind wir alle eingeladen. Wo wir ihn wagen, da wird er unseren Blick aufs Leben verändern, das eigene und das der anderen.


 

Zum zweiten Ostertag: Irgendwie sehen wir uns wieder

 

Wir sitzen am Küchentisch.
Durch die Fenster scheint die Frühlingssonne.
Ein Jahr ist es jetzt her,
dass ihre Schwester verstorben ist.
Die Kleine, sagt sie, die ihr von allen Geschwistern
immer am nächsten stand.
Als der Krebs erkannt wurde,
war er schon weit fortgeschritten.
Sie wollte keine Therapien mehr und hat damit
die Familien vor den Kopf gestoßen.
Es ist schwer auszuhalten, wenn jemand den
eigenen Tod nicht nur akzeptiert, sondern dem
Sterben auch noch mutig ins Auge sieht.
Nach nur drei Monaten ist sie gestorben.

"Sie fehlt mir, jeden Tag neu",
sagt die große Schwester jetzt am Tisch.
"Wir waren jeden Tag zusammen.
Haben so vieles gemeinsam gemacht.
Sie wohnte doch gleich neben an."
Dann blickt sie aus dem Fenster.
Die ersten Osterglocken blühen im Garten.
Ihre Gedanken wandern ein Jahr zurück.
Sie sitzt wieder am Krankenbett ihrer Schwester,
sieht das eingefallene, gezeichnete Gesicht.
"Sie hat immer gesagt:
Irgendwie finden wir uns wieder.
Nicht so, wie wir jetzt sind.
In einer anderen Welt.
Mach dir keine Sorgen, hab keine Angst.
Wir finden uns schon."

Maria stand draußen vor dem Grab und weinte.
Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab
hinein und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen,
einen zu Häupten und den andern zu den
Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte.
Und die beiden sprachen zu ihr:
Frau, was weinst du?
Maria spricht zu ihnen:
Sie haben meinen Herrn weggenommen,
und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
(Johannes 20)

Diese Erzählung vom ersten Ostermorgen,
vom Gang zum Grab, das leer gefunden wird,
von der Frage nach dem Wohin des Gestorbenen
sie handelt davon, dass hier Auferstehung
mitten ins Leben hinein geschieht,
nicht erst oder am Ende.

Es gibt viele kleine Auferstehungen aus dem Tod,
der jetzt unser Leben durchzieht. So schreibt es
der Theologe und Jesuitenpater Norbert Baumert.
Je mehr ein Mensch das im Alltag begreift,
umso mehr ist er bereit für die Stunde des Todes.

Ich verstehe diesen Gedanken so:
An die Auferstehung unserer Toten zu glauben,
das bedeutet, für mich selbst zu spüren und wahr sein zu lassen,
dass ich mir an einem entscheidenden Punkt meiner Existenz nicht selbst helfen kann,  
sondern nur der Glaube, dass da ein Gott ist, der rettet.
So wie ich geboren wurde und mich nicht selbst
geboren habe, so kann ich mich oder andere
nicht aus eigener Kraft aus dem Tod herausretten.
Aber Gott kann, der in uns ist,
auch wenn wir es nicht wissen,
in dem Lebende und Tote verbunden sind.

Wir sitzen am Küchentisch.
Durch die Fenster scheint die Frühlingssonne.
Ein Jahr ist es jetzt her,
dass ihre Schwester verstorben ist.
Nachdenklich guckt sie, aber auch zuversichtlich.
Irgendwie getrost.
Sie legt die Hände in den Schoß,
an denen noch ein paar Grashalme kleben.
Gerade hat sie das erste Mal in diesem Frühling
den Rasen gemäht hat.
Dann sagt sie:
"Wissen Sie, mir geht es ja gut,
ich bin nun so alt geworden;
ich möchte schon noch ein bisschen,
aber ich bin auch bereit.
Der liebe Gott kann mich holen.
Und irgendwie finde ich meine Liebsten dann wieder.
Ganz bestimmt."

Als die Nacht vorüber war,
fand sich die junge Frau im Garten wieder.
Sie stand da, weinend, hinter ihr das leere Grab,
vor ihr die aufgehende Sonne.
Hinter ihr das Dunkel des Todes,
vor ihr der neue Tag, der so tat,
als wäre nichts gewesen.

Wir wissen nicht, wie es ist,
den Auferstandenen zu sehen.
Wir können nicht wissen, wie es sich anfühlt,
wenn er uns mit unserem Namen anspricht.
Maria!
Die junge Frau fühlte sich erkannt.
Und sie erkannte Jesus ihrerseits.
Rabbuni, sagte sie,
so wie sie ihn immer angesprochen hatte.

Sie hat, so erzählt diese Ostergeschichte,
den geliebten Menschen nicht wiederbekommen.
Sie konnte ihn nicht berühren,
konnte den Augenblick nicht festhalten.
Aber es ist ihr etwas geschehen,
das sie im Innersten verwandelt.
"Ich habe den Herrn gesehen",
sagte Maria am ersten Ostermorgen.
Ihre Worte sind auch uns gesagt.

Denn: Christus ist auferstanden.
Halleluja!


 

Zum Ostermorgen: Christus ist am auferstandensten!

 

Noch in der Dunkelheit, vor Anbruch des Ostermorgens,
macht sich der alte Pfarrer auf den Weg.
Er läuft von Ortschaft zu Ortschaft,
um seinen Gemeinden das Osterlicht zu bringen.
Im letzten Bergdörfchen haben sich die Bewohner
in ihrer kleinen, festlich geschmückten Kirche versammelt.
Alle halten Kerzen in der Hand und warten darauf,
dass das große Wort kommt, damit sie sie anzünden.

So erzählt es der Schriftsteller Nikos Kazantzakis,
Und dann fährt er fort:
"Als Pfarrer Kaphatos dann kam,
triefend vor Schweiß und erhitzt vom Rennen,
stürzten alle aus der Kirche nach draußen.
In diesem Augenblick ging über dem Hang des Berges die Sonne auf.
Da sprang der Pfarrer mitten unter
die Dorfbewohner, öffnete die Arme und rief:
‚Christus ist am auferstandensten, meine Kinder!‘"

Das ist eine wunderbare Osterszene, die Nikos Kazantzakis erzählt:
wie eine Gemeinde und ihr Pfarrer plötzlich etwas
von der enormen Kraft der Osterbotschaft empfinden,
wie sie nach langem Warten und kräftezehrendem Weg
vom ersehnten großen Wort so unmittelbar gepackt und überwältigt werden -
bis in die Sprache hinein,
dass alles Bekannte plötzlich zu klein erscheint,
um diese Botschaft zu fassen.
So wird das Wort größer und mächtiger:
Am auferstandensten.
Auch Sprachgesetze zerbrechen am Osterjubel.

Liebe Osternachts-Gemeinde,
wie sehr war in den vergangenen Woche
auch unter uns diese Sehnsucht zu spüren:
dass das große, lösende Wort auch zu uns kommt,
das Starre und Konfliktbeladene aufbricht  
und neue, befreiende Töne laut werden lässt.
Ja, wie sehr brauchen wir dieses große Wort
nach den langen und ermüdenden Erfahrungen
der Pandemie, die uns vor Augen geführt hat,
wie gefährdet unsere individuelle Gesundheit ist
und wie zerbrechlich unser soziales Miteinander.
Und dann erst recht mitten im Erleben
dieses beängstigenden Krieges in der Ukraine,
durch den wir einen neuen Begriff von
unausweichlichem Leid bekommen haben.
Wir erleben miteinander so hautnah,
wie die Gewalt in das Leben von Menschen einfällt,
sie schutzlos und heimatlos macht,
und uns alle miteinander so stumm und ohnmächtig.

Welche Sprache sprechen wir im Angesicht des Bösen?
Was kann uns lösen aus der heillosen Logik von Gewalt und Gegengewalt,
die niemals Frieden hervorbringt?
Welche Worte sagen wir, um gegen allen Anschein die Hoffnung
auf eine andere, friedliche Welt wachzuhalten?
Wer in dieser Osternacht eine Antwort sucht
auf diese - und so viele andere ungelöste - Fragen,
der wird zunächst vor allem eines hören müssen:
Nichts davon kommt aus uns selbst heraus!
"Der Durchbruch kommt von außen!",
weiß schon der Mystiker Meister Eckhart.

Dass plötzlich eine unvorstellbare Kraft da ist,
die bis in unsere Tiefen hineindringt,
das ist das Wunder dieser Osternacht:
Fürchtet euch nicht, spricht der Engel die Frauen an:
Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten sucht.
Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat.

Mit diesen Worten beginnt die Bibel
eine ihrer größten Umkehrgeschichten:
Menschen machen sich auf einen letzten Weg,
sie gehen traurig zum Grab eines Toten -
und kehren von dort verändert zurück.
Sie gehen in die gleiche Welt, aus der sie kamen,
aber sie selbst sind nicht mehr die Alten,
weil sie etwas erlebt und erfahren haben,
das ihr Leben, Denken und Glauben grundlegend verwandelt.

Ostern geschieht, so verstehe ich es,
indem wir uns durch alle Wirrnis und Unsicherheit hindurch
das große Wort sagen lassenvom Sieg des Leben über den Tod.

Ostern geschieht, wenn dieses Wort zu uns durchdringt
und uns losmacht, damit wir neu aufbrechen können:
Aus der Sorge um uns selbst.
Aus dem Abgrund der Hoffnungslosigkeit,
aus dem wir uns nicht selbst befreien können.
Aus den Schicksalsschlägen, die unsere Träume
und Wünsche ans Leben hart beschneiden.
Ostern, das ist der Sieg des Lebens über
den vermeintlich übermächtigen Tod
und seine vielen Handlanger auf Erden.

Ja, dieser Tod wartet auch weiterhin auf uns.
Aber dass er nicht allein wartet, sondern dass da
ein anderer, stärkerer erst recht auf uns wartet,
das sei uns allen neu zum Leben und Glauben gesagt:
Diesseits und jenseits des Grabes ist ein Gott, der dich sieht.
Der weiß, wovor du Angst hast und was du brauchst.
Der hört, wenn du ihn bittest.
Dir Schuld vergibt, wenn du Unbereinigtes zurücklässt.
Dich begleitet, wenn du unsicheren Schrittes aufbrichst
und dich so neu ins Leben schickt.

"Ostern bringen wir nicht ein fernes historisches Ereignis
oder einen geistlichen Durchbruch zur Sprache,
sondern die Einsicht, dass Jesu Tod und seine Auferstehung
wieder und wieder Gestalt zu geben ist
in einer Welt, die der Erlösung bedarf."

Das schreibt der Hannoversche Landesbischof
Ralf Meister in seinem Osterwort. Ich höre das so:
Die Einladung zur österlichen Freude,
die uns in dieser Nacht zu Teil wird,
sie trägt immer auch Spuren von Furcht und Zittern,
von Fragen, von Weinen und Zweifeln an uns selbst
und dieser Welt in sich – und führt doch über sie hinaus.

Zum Anbruch des dritten Tages ist uns allen das gesagt:
Ja, feiert Ostern!
Gebt dem neuen Leben Raum!
Richtet euch nicht im Gewohnten ein!
Werdet nicht überraschungsfest!
Denn der Herr ist auferstanden.
Er ist am auferstandensten!
Halleluja!


 

Zum Karfreitag: Gott, der am Kreuz festhält

 

Boris Romantschenko ist 96 Jahre alt geworden.
Ende März wurde er in seiner Heimatstadt Charkiw
bei einem russischen Raketenangriff getötet.
Als Junge von 16 Jahren wurde der Ukrainer
nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht
auf die Sowjetunion von den deutschen Besatzern eingefangen
und zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. 1942 war das.
Nach einem missglückten Fluchtversuch
kam Boris Romantschenko ins KZ Buchenwald,
später ins Lager Bergen-Belsen bei Celle.
Hier wurde er zu Kriegsende befreit.
Er blieb in Deutschland,
leistete Dienst in der Roten Armee.
1950 kehrte er in die Ukraine zurück,  
studierte an der Bergbau-Akademie in Charkiw
und arbeitete dort als leitender Ingenieur.
Bis ins hohe Alter war Boris Romantschenko
aber vor allem ein steter Mahner gegen Hass
und Gewalt, für Versöhnung und Verständigung.
Es ist einfach entsetzlich:
Dieser aufrechte Mensch, der in seiner Jugend
soviel Schreckliches erlebt hat, muss so sterben.
Russischen Bomben und Raketen töten wahllos.

Wir hören, lesen und sehen es ja selbst jeden Tag.
Kaum auszuhalten ist diese Flut der Bilder
von Leid und Zerstörung in der Ukraine.
Auch Bilder von Boris Romantschenko
waren zu sehen: Wie er im hohen Altern
im Konzentrationslager Buchenwald steht,
in der Häftlingsuniform unter dem dicken Mantel,
wie er mit ehemaligen Mithäftlingen redet,
wie er von seiner Verantwortung spricht,
am Aufbau einer neuen Welt des Friedens
und der Freiheit mitzuwirken,
wie er mahnt, nie wieder dürfe so etwas passieren
wie ein Weltkrieg oder Konzentrationslager.
Und dann stirbt dieser besondere Mensch
durch die Gewalt einer Armee, der Soldaten
einst selbst viele Konzentrationslager befreit haben.

Ich erinnere uns an Boris Romantschenko,
weil sein tragisches Schicksal für mich an diesem Karfreitag
so etwas wie das Bild der Stunde ist:
Wir bekommen durch den grausamen Krieg
einen neuen Begriff von unausweichlichem Leid.
Wir erleben miteinander so hautnah,
wie die Gewalt in das Leben von Menschen einzieht,
sie schutzlos und heimatlos macht,
und uns alle miteinander so stumm und ohnmächtig.
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich,
doch antwortest du nicht, und des Nachts,
doch ich find keine Ruhe!
Die alten Psalmworte, die wir gesprochen haben,
die auch Jesus am Kreuz gebetet hat,
sie setzen den Ton am Karfreitag.

"Sicher fehlt es in keinem Leben an Augenblicken,
nein, Stunden, Tagen, Wochen, vielleicht Jahren,
in denen wir uns des Gedankens nicht erwehren
können: Wir mögen von Gott verlassen sein -
wir, die ihn so oft verlassen haben."
Das schreibt der Theologe Karl Barth über das
Erleben des Karfreitags - und fährt dann fort:
"Wir irren uns aber samt und sonders,
wenn wir so fühlen und denken.
Gottverlassenheit kann im Lichte des Karfreitags
nur noch ein Schatten sein, nur noch eine wüste
Erinnerung, nur noch ein böser Traum.
Es könnte wohl wahr sein, es ist aber nicht wahr –
für dich nicht und für mich nicht, für keinen,
dass Gott uns verlassen hat."

Denn: Gott war in Christus, der am Kreuz stirbt.
Das Kreuz Christi erzählt davon,
wie schmerzhaft weit die Wege Gottes zu uns sind,
wie sie bis in die äußerte Tiefe gehen;
davon auch, wie unbedingt diesem Gott
daran gelegen ist, dort gefunden zu werden,
wo das Leben hart geprüft wird;
wo die Gewalt wie entfesselt herrscht;
wo der ersehnte Friede ausbleibt.
wo alle Hoffnung wie begraben scheint.

Du wirst Gott auch dort suchen müssen,
sagt der Karfreitag.
Denn Gott ist immer dort - am Kreuz.
Es gibt kein Leiden und Sterben, das Gott fremd ist.
Und das gilt gerade auch dann,
wenn das Kreuz wie begraben ist;
verschüttet unter den Trümmern der Friedlosigkeit,
die wir Menschen um uns ausbreiten,
überdeckt von den riesigen Brocken von Schuld.
Gott verlässt nicht. Die Welt nicht.
Uns Menschen nicht. Unter keinen Umständen.
 Gott hält fest am Kreuz.

Wer so über das Kreuz ins Stolpern gerät,
der darf im Kreuz das andere Zeichen erkennen,
das uns dünnhäutig machen will
für die schmerzhaften Seiten des Lebens,
für die Spannung zwischen Tod und Leben,
für die stärkere Kraft der Liebe,
die uns Menschen von Gott zu Teil wird.

Ja mehr noch: Das Kreuz fragt uns:
Wo stehst du in diesem Geschehen?
Fernab oder unterm Kreuz?
Bei den Gaffern oder den Spöttern,
bei den Gewaltbereiten oder den sprachlos Verstummten?
Und was lässt du dich diese Welt angehen
in all ihrer Absurdität, mit all dem Ungeklärten,
dem Leiden und dem Dunkel?

Gegen den Krieg können wir wohl nichts tun.
Aber für den Frieden unter uns schon:
einander nicht verächtlich machen,
Konflikte dort, wo sie unter uns aufbrechen,
zur Versöhnung bringen, andere achten,
Schuld eingestehen, Unrecht beim Namen nennen.

Der Verheißung Jesu trauen, dass die selig sind,
die den Frieden suchen und tun,
ja dass sie Gottes Söhne und Töchter sind.
Das alles muss diesen Karfreitag überdauern.
Auch wir sollen zu denen gehören,
die Gottes Kinder heißen. Amen.


 

Der Friede braucht Wahtheit

 

„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit!“ Diese Redensart wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs geprägt. Sie ist heute, über einhundert Jahre später, aktueller, als es uns lieb sein kann.

Wer Krieg führt, vor allem einen Angriffskrieg, braucht als erstes nicht herkömmliche Waffen. Er braucht die Lüge. Sie ist die schärfste Waffe, um dem Gegner Böses zu unterstellen oder sich selbst in eine Opferrolle hinein zu reden. Das beobachten und erleiden wir auch beim schrecklichen Krieg in der Ukraine, den man in Russland unter Androhung von Strafe nicht als Krieg bezeichnen darf.

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit! Man kann weder Worten noch Bildern trauen. Alles kann gefälscht oder verdreht oder in andere Zusammenhänge gerückt sein. Sehen wir, was wirklich geschieht, oder sehen wir, was wir sehen sollen? Welche Worte stimmen? Und welche sollen wir glauben, die in Wahrheit falsch sind? In jedem neuen Krieg wird mehr und besser gelogen, seit immer mehr gefälscht werden kann.

Was bedeutet das für uns? Es bedeutet zuallererst die Verpflichtung zur vorsichtigen Wachsamkeit. Alles, was wir wahrnehmen, muss sich befragen lassen: Kann das wahr sein?

Für den christlichen Glauben hat der evangelische Theologe Hans-Martin Barth Prinzipien der Wahrheitsfindung formuliert, die sich für ihn auf der Basis der Bibel und in der Gemeinschaft der Glaubenden ergeben. Seine Prinzipien lauten: „Gnade vor Recht, Freiheit vor knechtender Abhängigkeit, Liebe vor Hass, Heil vor Unheil, Leben vor Tod“. Wo diese Prinzipien im Miteinander erkennbar sind, da ist Wahrheit im Spiel, von der Jesus gesagt hat: „Sie wird euch Menschen frei machen!“ (Johannes 8,32)

Für Kriege braucht man Lügen. Für den Frieden braucht man die Wahrheit. Eine russische Journalistin hat mit dieser Wahrheit begonnen, als sie mutig ein Bild mit der Wahrheit über den brutalen Krieg in der Ukraine in die Fernsehkameras hielt: Sehr her: Das ist die Wahrheit! Sie beginnt dort, wo wir anderen sagen: „Du bist nicht mein Feind!“     


 

Die andere Welt

 

Sie habe es einfach nicht mehr ausgehalten, sagt Vera Lytovchenko. Die junge Musikerin lebt in der Stadt Charkiw in der Ukraine. Sie hat lange Nächte im Keller erlebt, die ständige Angst vor Luftangriffen, die Furcht ums eigene Leben, um ihr Hab und Gut. All das hielt sie nicht mehr aus und wollte darum etwas Schönes tun.

So nimmt die junge Musikerin ihre Geige mit in den Luftschutzkeller und spielt dort unten bei Kerzenschein ein ukrainisches Volkslied. Die Menschen im Keller sind tief bewegt, Tränen fließen. Und später sagt Vera: „Wir sind in diesem Keller zu einer Familie geworden, und als ich spielte, da vergaßen wir für einige Momente den Krieg dort oben, dachten an etwas anderes, viel Schöneres.“

Ja, es gibt sie: die andere Welt mitten in dieser Welt, deren dunkele und brutale Seite wir derzeit so nah und unmittelbar erleben müssen. Und die Geschichte von Vera Lytovchenko und ihrer Liebe zur Musik mitten im Kriegsirrsinn erzählt von dieser anderen Welt. Jesus hat sie das Reich Gottes genannt.

Es ist die Welt der Fürsorge und des Zarten. Da sind Menschen nicht gegeneinander eingestellt, sondern füreinander da. Mit leiser Musik, mit freundlichen Gesten und tröstenden Worten. Heilsam ist diese andere Welt. Ein starkes Hilfsmittel gegen die Angst.

„Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet“, schreibt der Psychiater Viktor Frankl: „Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblick sein wird!“ Ich höre das so: Niemand von uns muss anderen böse oder feindselig sein. Es ist für uns immer möglich, auf der freundlichen, liebenswürdigen Seite der Welt zu leben, von anderen möglichst gut zu denken, ihnen kein Leid zufügen zu wollen, sondern füreinander heilsam zu sein.

Das ist das Reich Gottes. Von ihm sagt Jesus sehr deutlich: „Seht, es ist mitten unter euch!“ (Lukas 17,21) In Charkiw zaubert eine junge Musikerin mit ihrem Geigenspiel dieses Reich mitten hinein in einen dunklen, angstvollen Keller - und mit ihm die Zuversicht, dass dieser Wahnsinn enden wird!


 

Das Leben heller machen

 

In Frankreich gibt es eine kleine evangelische Kirche, die im Volksmund „l‘église de lampes en feu“ genannt wird, die „Kirche der brennenden Lampen“.

An jedem Sonntagabend, so ist es nachzulesen, versammelt sich in dieser Kirche eine Gemeinde zum Gottesdienst. Die meisten der Besucherinnen und Besucher bringen eine Öllampe mit. In der Kirche werden die Lampen entzündet und auf die breiten Banklehnen gestellt. So wird der Kirchenraum hell und der Gottesdienst kann beginnen.

Den Brauch der brennenden Lampen pflegt die Gemeinde seit über 450 Jahren. Noch heute erhält jedes Gemeindeglied zur Konfirmation eine solche Öllampe, die es bis zu seinem Tod behalten und zum Gottesdienst mitbringen soll. Die Lampen wandern in den Familien über die Generationen von Hand zu Hand. Und jeder weiß: Wenn seine Lampe im Gottesdienst fehlt, dann wird die Kirche ein wenig dunkler sein.

Im Brauch der brennenden Lampen liegt eine tiefe Glaubensbotschaft, finde ich: Wir Menschen können einander das Leben heller machen, wenn wir nur wollen. Wir können füreinander Licht sein, Botinnen und Boten der Hoffnung in unseren Gemeinden und weit darüber hinaus.

Wer will, erinnert sich jetzt an ein Bildwort, das Jesus in der Bergpredigt gebraucht hat: „Ihr seid das Licht der Welt: Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben! Es zündet ja auch niemand eine Öllampe an und stellt sie dann unter einen Tontopf. Im Gegenteil: Man stellt sie auf den Lampenständer, damit sie allen im Haus Licht gibt. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten.“

Ich verstehe das so: Wo wir als Christinnen und Christen in die Welt hinaustreten, die sooft finster und kalt ist, da müssen wir uns entscheiden: Wollen wir leuchten oder lieber unsichtbar bleiben? Das Licht selbst erzeugen wir jedoch nicht. Es ist Gottes Licht, das wir ausstrahlen und an andere weitergeben sollen.

In der Kirche der brennenden Lampen wird der Raum durch viele Flammen erhellt. Es kommt auf jede einzelne an. Das dürfen wir auch für uns hören: Du musst nicht immer die hellste Leuchte sein. Hauptsache, du leuchtest, weil Gott auch dich entzündet hat. So scheint inmitten der Dunkelheit und Sorgen dieser Welt etwas auf vom Frieden und von der Zuversicht, die auch das Leben anderer hell machen können.


 

Vielmehr als nichts!

 

„Sag mir, was wiegt eine Schneeflocke?“, fragte die Meise die Taube. „Nicht mehr als Nichts“, antwortete diese. „Dann muss ich dir eine wunderbare Geschichte erzählen“, sagte die Meise: „Ich saß auf dem Ast der Fichte, dicht am Stamm, als es zu schneien anfing; nicht etwa stürmisch, sondern lautlos und ohne Schwere. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, zählte ich die Schneeflocken, die auf die Zweige und Nadeln meines Astes fielen und darauf hängenblieben. Genau dreimillionensiebenhunderteinundvierzigtausendneunhundertzweiundfünzig waren es. Als die dreimillionensiebenhunder-einundvierzigtausendneunhundertdreiundfünzigste Flocke niederfiel - nicht mehr als Nichts, wie du sagst -, da brach der Ast ab.“ Damit flog die Meise davon. Und die Taube sagte zu sich nach kurzem Bedenken: „Vielleicht fehlt nur eines einzigen Menschen Stimme zum Frieden in der Welt.“

Ich habe diese kurze Geschichte beim Vorlesen mit unserem jüngsten Sohn entdeckt. Auch Kinder haben große Fragen zu Krieg und Gewalt in diesen Tagen. Vor allem fragen sie danach, was fehlt, damit endlich Frieden in der Welt ist. Vielleicht fehlt ja nur eine einzige Menschenstimme, denkt sich die Taube, seit Noahs Zeiten eine Spezialistin in dieser Frage.

Annette Kurschus, die Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland, sagte kurz nach Ausbruch des schrecklichen Angriffskrieges in der Ukraine folgende Sätze: „Hüten wir uns zu denken, wir könnten nichts tun! Hüten wir uns zu meinen, es käme auf unsere Worte, Gedanken und Bilder nicht an! Wo Kriege geführt werden, da kommt es auf Waffen an. Wo Frieden werden soll, da kommt es auf uns an.“

Ich höre das so: Damit Frieden wird, zählt jede Stimme, die nein sagt zu Hass und Gewalt. Es kommt auf uns an, dich und mich, unsere Worte zu wägen, Unrecht beim Namen zu nennen - und doch nicht zu hassen. Es kommt auf uns an, den leidenden Menschen in der Ukraine, den verängstigten Menschen in unseren Nachbarländern unsere Solidarität zu zeigen. Es kommt auf uns an, den Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg stellen, unsere Achtung zu bezeugen. Es kommt auf uns an, den Menschen, die flüchten, zu helfen, ihnen Wege zu öffnen, damit sie ihr Leben retten können, und sie aufzunehmen. Das alles ist so viel mehr als Nichts! Ich glaube fest daran, dass unsere Stimmen des Friedens Gewicht haben, dass sie gehört werden in dem einen Himmel, der sich über alles Leben auf dieser Erde ausspannt.


 

Die Welt muss erfahren, was hier geschieht!

 

Am dritten Tag des Krieges gegen die Ukraine standen an der Grenze ins Nachbarland Rumänien hunderte von Menschen in einer kilometerlangen Schlange, um ihre Heimat zu verlassen. James Elder war in die andere Richtung unterwegs: ins Land hinein.

James Elder ist Sprecher von Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Der 51Jährige reist dorthin, wo Menschen, vor allem Kinder, leiden. Seit Ende Februar ist er mit seinem Team von Unicef im Westen der Ukraine unterwegs.

James Elder fährt zu Familien, die tagelang an den Grenzen warten. Er drängt sich mit Tausenden, die in den Bahnhöfen auf einen Platz im Zug warten.

Er besucht Flüchtlingszentren, wo die Menschen sich ausruhen, medizinisch versorgt werden, etwas essen und duschen können. Viele Menschen in der Ukraine wurden über Nacht zu Flüchtlingen. Sie mussten ihr Zuhause überstürzt verlassen, nun suchen sie Schutz und Sicherheit.

Überall, wo er hinkommt, spricht James Elder mit den Menschen, hört ihnen aufmerksam zu, um dann ihre Geschichten weiterzuerzählen. „Die Welt muss erfahren, was hier geschieht,“ sagt er: „Das Schlimmste, auch wenn es schwer zu glauben ist, ist, dass es noch schlimmer werden kann.“

Gibt es in all dem Schrecken überhaupt so etwas wie Hoffnung, Herr Elder? Ja, sagt der erfahrene Krisenmanager: Es sei vor allem die Art und Weise, wie die Ukrainer sich gegenseitig helfen: „Die Menschen halten zusammen und teilen, was sie haben. Ich habe Flüchtlinge gesehen, die unter zwei Decken in der Kälte trotzdem frieren. Wenn aber neben ihnen jemand ganz ohne Decke ist, geben sie eine ab.“ Und es seien die Kinder, die Anlass zur Hoffnung geben.

Eine berührende Geschichte, die James Elder in die weite Welt hinaus erzählt, ist die von Sofia. Das Mädchen saß tagelang in einem Bunker fest, hat seine Freunde zurückgelassen und weiß nicht, wo es bald leben wird. Aber Sofia konnte ihre Katze retten, die sie nun tröstet. „Als Sofia mir ihre Katze zeigte und sie streichelte, konnte sie wieder lächeln.“

Wer James Elder auf Twitter folgt, liest diesen Tweet: „Mehr als alles andere brauchen die Kinder in der Ukraine dringend Frieden. Jetzt.“


 

So viel Liebe

 

Es ist das erste Mal, dass ich mich freue,
dass mein Vater nicht mehr lebt.
Dass er all das nicht sehen und nicht hören muss.
Ein unmöglicher, ein unvorstellbarer Krieg.
Fliegeralarm in Kiew, Raketenangriffe,
Straßengefechte, Millionen auf der Flucht,
Kinder in Kellern.

Das schreibt die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin
Katja Petrowskaja über ihr hautnahes Erleben
des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Die 52jährige hat im Jahr 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.
Nun führt sie seit Ende Februar eine Art Tagebuch über diesen schrecklichen Krieg
und das Schicksal der Menschen in ihrer Heimatstadt Kiew.

"Vierter Tag, Sperrstunde bis Montagfrüh.
Meine Mutter, Geschichtslehrerin, 86 Jahre,
sitzt schon den dritten Tag im Luftschutzkeller - wie die Hälfte der Stadt.
Sie wollte Kiew nicht verlassen, ‚ich bleibe hier,mit allen anderen‘, sagt sie, ‚und es passiert mirdas, was allen passiert.‘
Wenn ich sie anrufe, erzählt sie mir von den anderen Menschen im Keller, von Lena, Mykola und Odarka,
und von den Kindern im Zimmer nebenan.
Sie hat ihre Rückenscherzen komplett vergessen und spricht so theatralisch mit mir,
so überzeugt, dass die ganze Welt sie hört,
dass jemand nebenan sagt:‚ Sie sollten das in TikTok posten, Mütterchen, dann siegen wir.‘
Eine schwere Kolonne bewegt sich Richtung Kiew."

Und am fünften Tag des Krieges notiert sie:
"Im ganzen Land beginnt der Tag mit dem Morgenappell,
das ist bereits zum Kriegsritual geworden:
‚Hallo, wie geht es euch?‘,heißt es auf Facebook, Twitter und Telegram.
Meine Freunde melden sich aus den Luftschutzkellern, aus verbarrikadierten Wohnungen,
aus U-Bahn-Stationen verschiedener Bezirke:
‚Hallo! Hallo! Am Leben!‘
‚Bei uns war alles still.‘
‚Vögel singen!‘
‚Ich habe mich noch nie so über Sonnenlicht gefreut.‘
‚Bei uns miaut und schnarcht es!‘
‚Meldung aus dem Nordosten:
Bei uns taut es. Das Wetter ist sonnig.‘

Wie kurze Funksprüche per Facebook seien diese Überlebensmeldungen, so Petrowskaja.
Manchmal posten Menschen nur ein Herzen oder eine Umarmung.
Alle versuchen, einander aufzumuntern.

Und dann schreibt Katja Petrowskaja einen Satz,
der mir unter die Haut, bis ins Herz fährt:
"Niemals zuvor habe ich so viel Liebe, Stärke und Zusammenhalt gesehen."

Das ist ein tröstlicher Satz. Es ist ein hoffnungsvoller Satz:
Inmitten von Krieg und Zerstörung, von hilfloser Wut und großer Sorge
kann die Liebe Kraft geben, nicht zu erstarren, sondern einander zum Leben aufzurichten.

Ja, der Tod ist stark über dieser Welt. Und er reißt Wunden, die nie mehr ganz heilen.
Aber die Liebe ist stark für die Ewigkeit.
Der Tod nimmt, aber Liebe gibt. Sie verbindet, was der Tod entzweien will.
Ohne die Liebe verstummen wir vor dem Tod.
Es liegt an uns, ihm nicht das letzte Wort zu lassen!
Amen.


 

Dummheit ist gefährlich

 

„Dummheit“ ist der Titel eines schmalen Büchleins, das die österreichische Ärztin Heidi Kastner geschrieben hat. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie.

„Dummheit ist gefährlich“, schreibt Heidi Kastner darin gleich zu Beginn, weil sie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und den sozialen Zusammenhalt gefährde.„Dumme Menschen verstehen sich nicht als Teil eines Gefüges, für sie kommen immer nur die eigenen Belange an  erster Stelle.“ Aber: Was genau ist Dummheit?

Heidi Kastner sieht „drei Säulen der Dummheit“, wie sie es nennt: die erste ist die Verweigerung von neuem Lernen; die zweite ist die Verweigerung von anderem Denken und die dritte das Verweigern von Fakten. Dummheit, so verstehe ich, besteht also im Wesentlichen aus einer starken Verweigerungshaltung, aus dem entschlossenen Beharren auf dem, was man schon immer wusste, heute zu wissen meint und morgen auch noch wissen will.

Solche Dummheit sei, so die Psychiaterin, leider sehr gerecht verteilt über diese Welt. Es gibt sie in allen gesellschaftlichen Schichten. Wir haben das in der langen Corona-Pandemie gut beobachten können. Dummheit trifft auch intelligente Menschen, die meinen, ihre Entscheidungen nüchtern und rational zu treffen.

Ist gegen Dummheit also wirklich kein Kraut gewachsen? Doch, sagt Heidi Kastner. Dagegen helfe vor allem, sich der eigenen Ansichten nicht zu sicher zu sein. Wir Menschen sind die einzigen Geschöpfe, die Fragen stellen können. Und wir können
uns selber infrage stellen. Das sollten wir auch tun!

Wir müssen uns nicht sicherer geben, als wir sind. Oft brauchen wir Hilfe beim Verstehen dieser komplexen Welt. Manchmal auch nach dem ersten Rat einen zweiten. Und wir können Gott im Gebet um Hilfe bitten. Dann fällt der Rat vielleicht nicht direkt vom Himmel, aber wir zeigen eine Offenheit unserer Gefühle und Gedanken, die uns hilft. Wir finden gute Antworten am ehesten dann, wenn wir offen für sie sind.

In der biblischen Losung für dieses durch Krisen und Krieg geplagte, an manchen Dummheiten schon überreiche Jahr sagt Jesus einen Satz, den wir uns alle zu Herzen nehmen dürfen: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen!“ Im Glauben, so höre ich, muss ich keine Frage scheuen. Wir wachsen nicht an unseren angeblichen Sicherheiten, sondern vor allem an unseren Zweifeln. Nein, es ist nicht dumm, unsere Unsicherheit vor Gott zu bringen. Denn dieser Gott, darauf vertraue ich, wird uns gewiss machen.


 

Wer Frieden will, muss sich überwinden

 

Er ist schon schlecht zu Fuß. Erst die Hüfte, dann der Rücken, nun heftige Schmerzen im Knie. Papst Franziskus ist 85 Jahre alt, er humpelt und hat in der vergangenen Woche fast alle öffentlichen Termine abgesagt, weil ihm das Laufen zur Tortur wird.

Doch einen schweren Gang machte er zuvor noch: Er ging zum russischen Botschafter beim Heiligen Stuhl. Der hat seinen Sitz in der Prachtstraße, die auf den Petersdom zuführt. Nach dem diplomatischen Protokoll hätte der Papst den Botschafter einbestellen müssen. Doch Franziskus machte es andersherum. Mit seinem weißen Fiat 500 fuhr er herüber zur Russischen Botschaft und mühte sich Stufe für Stufe hinauf in den Palazzo. Dort führte er eines jener seltenen Gespräche, das vom Vatikan zwar bestätigt wird, aber dessen Inhalt streng vertraulich bleibt.

Auch ohne Worte ist die Botschaft dieses mühevollen Pilgerganges klar: Wer Frieden will, der muss sich überwinden. Denn Frieden zu machen, ist so viel schwieriger, als Krieg anzufangen! Befrieden heißt Schwäche zeigen, wo man lieber stark wäre. Wenn es gefährlich wird, dann bringen Stolz und Hierarchie gar nichts, allenfalls Demut hilft dann und die Bereitschaft, auf andere zuzugehen.

Der Theologe Jörg Zink hat dazu einmal einen passenden Gedanken geschrieben: „Wenn du etwas für den Frieden tun willst, dann darfst du nicht siegen wollen. Solange du siegen willst, befindest du dich in einem Krieg und willst gewinnen. Wer noch siegen will, stiftet keinen Frieden.“

Ich verstehe das so: Niemand, der aufrichtig nach Frieden sucht, wird dabei bleiben können, wie er ist. Es gibt keinen Frieden ohne eigene Opfer. Und dieser Friede beginnt immer mit mir und dir als Menschen, die ihre fette Rüstung ablegen, die alles tun, was dem Leben dient, die sich dünnhäutig und empfindsam geben für Nöte und Sorgen anderer. Es braucht für den Frieden immer mehr als den Blick auf das eigene Recht. Noch einmal Jörg Zink: „Wenn du etwas tun willst für die Gerechtigkeit …, dann sieh zu, dass du sie nicht mit deinem eigenen Rechtsanspruch verwechselst.“

In alle Ratlosigkeit und Empörung hinein, die dieser brutale Krieg gegen die Ukraine in mir auslöst, wirkt die Geste des humpelnden Papstes entwaffnend: Krieg lässt sich nicht mit Krieg beenden, es sei denn um einen furchtbaren Preis. Wer Frieden will, der muss sich überwinden!


 

Richtig und gut

 

In schlechten Zeiten braucht es einfach auch mal gute Nachrichten, wie diese Geschichte: Jyoti ist 15 Jahre alt und lebt in Indien. Dort nennt man sie jetzt eine Heldin für das, was sie getan hat. Als ihr Vater, ein Wanderarbeiter, seine Arbeit verliert, weil er nach einem Verkehrsunfall nicht mehr laufen kann, kauft Jyoti von ihrem ersparten Geld ein gebrauchtes Fahrrad. Damit fährt sie ihren verletzten Vater auf dem Gepäckträger quer durchs Land zurück nach Hause zur Familie: von der Hauptstadt Neu-Delhi in ihr Heimatdorf Darbhanga im Nordosten Indiens - zehn Tage lang, 1200 Kilometer weit.

Das sei eine heldinnenhafte Tat, finden nicht nur viele Menschen, die davon in den lokalen Zeitungen lesen, sondern auch der indische Radsportverband. Dort  erkennt man die beachtliche Leistung des Mädchens und lädt Jyoti zum Probetraining ein. Weil sie erstaunlich talentiert sei, will man sich nun um ihre Ausbildung an der eigenen Radsport-Akademie kümmern.

Das ist eine Geschichte, die richtig guttut, oder? Weil sie davon erzählt, dass wir Menschen unsere Talente und ihre Chancen manchmal „wie nebenbei“ entdecken können; vor allem aber, weil Jyoti, erst 15 Jahre alt, keinerlei Zögern oder Zaudern in ihrem Handeln erkennen lässt. Sie tut, was sie in diesem Augenblick für richtig hält: Sie hilft ihrem verletzten Vater nach Hause zu kommen, um dort gesund zu werden. Sie tut das Richtige in der Hoffnung, dass es gut wird.

Manchmal denken wir ja, dass wir selbst kaum etwas bewirken können angesichts der Krisen und Konflikte dieser Welt, die uns in diesen Tagen so beängstigend nahekommen. Darum ist Jyotis Geschichte für mich eine Erzählung über die erstaunliche Wirksamkeit der kleinen Kraft, die weite Kreise ziehen kann. Weil sie andere überrascht, erstaunt und mitreißt.

Der Apostel Paulus schreibt dazu im ersten Thessalonicherbrief einen aufmunternden Satz: „Jagt allezeit dem Guten nach, füreinander und für jedermann.“ Ich höre das so: Bemüht euch mit allen Kräften, das Richtige zu tun in der Hoffnung, dass es auch gut wird! Denn das Gute fällt uns nicht einfach in den Schoß, es braucht Haltung und Aktivität. Und manchmal ist es dann einfach erstaunlich, was passieren kann, wenn wir uns füreinander ins Zeug legen. Darum: Danke, Jyoti, für deine Geschichte!


 

Friedensgebet

 

Du hast Gedanken des Friedens, Gott,
so sagt es die Bibel.
Aber jetzt ist Krieg.
In der Ukraine.
Von Russland angegriffen.
Und wir haben Angst.
Wo gibt es Halt?
 
Wir kommen zu dir und bitten dich, Gott:
Pflanz deine Gedanken des Friedens ein
in die Köpfe der Mächtigen.
In die Herzen derer, die weiter um Frieden verhandeln.
Steh denen bei, die in Angst vor Bomben leben
und ihre Toten beklagen.
Gib Hoffnung und Zukunft.
Und klaren Verstand.
Damit die Waffen wieder schweigen.
Damit Friede sich ausbreitet.
Dort in der Ukraine.
Und hier bei uns.
Amen.


 

Warum der Krieg unterblieb

 

Als der Krieg zwischen zwei benachbarten Völkern unvermeidlich war, so erzählt eine alte Geschichten, da schickten die Feldherren von beiden Seiten Späher aus, um zu erkunden, wo man am leichtesten in das Nachbarland einfallen könne. Die Kundschafter kehrten zurück und berichteten auf beiden Seiten dasselbe: Es gäbe nur eine Stelle an der Grenze, die sich dafür eigne. Dort aber, so sagten die Späher, wohne ein braver Bauer in einem kleinen Haus mit seiner anmutigen Frau und seinem kleinen Kind. „Höre, Feldherr: Es heißt, sie seien die glücklichsten Menschen der Welt. Wenn wir nun über das Grundstück marschieren, dann zerstören wir das Glück. Also kann es keinen Krieg geben.“ Das sahen die Feldherren beider Seiten ein, und der Krieg unterblieb, wie jeder Mensch begreifen wird.

Das klingt in der Tat märchenhaft, oder? Um des Glückes eines einzelnen Menschen willen unterbleibt ein ganzer Krieg. Das Glück von Menschen wiegt weitaus mehr, als alle Interessen, die mit Gewalt verfolgt werden könnten. Unsere Wirklichkeit sieht heute ganz anders aus: Wir schauen an die Grenzen der Ukraine. Und das Herz wird schwer: Wie kann es sein, dass Bosheit siegt und Unvernunft? Dass sich Sturheit und Machtgier durchsetzen, weil es um Wichtigeres zu gehen scheint, als um das Leben und Glück der Menschen dort.

Gibt es Wichtigeres? Nein, sagt das Märchen: Es gibt keine Interessen, keine noch so hohen Ideale oder Narrative, die es rechtfertigen, auch nur das Glück eines einzigen Menschen zu gefährden. Wo dieser Grundsatz in der Realität hart strandet, da soll er doch über unserem Denken und Planen und Handeln bestehen bleiben.

„Ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe, spricht Gott, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ So lässt es Gott den Propheten Jeremia sagen. Ich höre Gottes Worte als Mahnung über dem Weltgeschehen, aber auch als Worte der Hoffnung, dass sich unsere Welt entgegen allem Augenschein besinnen und wandeln kann. Weil das Glück jedes einzelnen Menschen mehr wiegt als alles andere. Damit der Krieg unterbleibt, wie jeder Mensch begreifen wird.


 

Nach dem Valentinstag

 

Wir bleiben zusammen, sagte Eva.
Wir gehen zurück in den Garten.
Und sie legte ihr Arme um Adams Hals
und sah ihn liebevoll an.
Ist er denn noch da?, fragte Adam erstaunt.
Gewiss, sagte Eva.
Wie willst du das wissen?, fragte Adam mürrisch.
Woher meinst du, fragte Eva,
dass ich die Reben hatte, die ich dir gebracht habe,
und woher meinst du, dass ich die Zwiebel der Feuerlilie hatte,
und woher meinst du hatte ich den schönen, funkelnden Stein?
Woher hattest du das alles?, fragte Adam.
Die Engel, sagte Eva, haben es mir über die Mauer geworfen.
Wenn wir kommen, rufe ich die Engel,
und dann öffnen sie mir das Tor.
Adam schüttelte langsam den Kopf,
weil eine ferne und dunkle Erinnerung ihn überkam.
Gerade dir, sagte er. Aber dann fing er an zu lachen,
laut und herzlich, zum ersten Mal seit langer Zeit.


 

Offene Türen

 

Es ist nur eine kurze Notiz im Nachrichtenportal der Zeitung, aber sie hat es in sich: „Sparkasse bietet Obdachlosen Unterschlupf und verteidigt sich gegen unfreundliche Kunden“, steht da in großen Buchstaben. Was steckt dahinter?

Eine Sparkassenfiliale im saarländischen Neunkirchen lässt derzeit ihre Türen über Nacht offen, damit Menschen ohne Obdach im beheizten Foyer für ein paar Stunden Unterschlupf finden können. Das ist eine Geste der Mitmenschlichkeit in kalten Winternächten, die jedoch bei einigen Kunden für Unmut und Beschwerden zu sorgen scheint.

Zumindest sieht sich die Bank dazu genötigt, darauf mit einem Aushang zu reagieren. Darauf steht: „An jene, die nachts Menschen ohne Obdach belästigen: Wenn eine Bankfiliale sich dazu entscheidet, in den kalten Jahreszeiten ihre automatischen Türen geöffnet zu lassen, dann können Sie davon ausgehen, dass es sie nicht stört, wenn Obdachlose hier Schutz vor der Kälte suchen!“

Das ist deutlich - und manchmal ist es in dieser Deutlichkeit nötig, wenn Menschen gedankenlos und vorschnell über andere den Stab brechen und meinen, die wären an ihrem Schicksal selber schuld. Die Nachricht von den offenen Banktüren wurde im Internet vielfach geteilt und hat viel Zuspruch erfahren. Gut so!

„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ Das schreibt der Prophet Jesaja und erinnert uns alle  daran, welche Aufgaben uns Gott im Miteinander stellt: Nimm die Bedürftigkeit um dich herum wahr. Sei solidarisch mit denen, die Hilfe brauchen. Achte auf die, die beschützt werden müssen. Vergiss nie: Was du hast, hast du nicht nur für dich selber! Wenn Gott es gut mit dir meint, sollst du es auch gut mit anderen meinen können.

Die Mitarbeitenden der Sparkasse in Neunkirchen halten in kalten Nächten ihre Türen offen. Und sie appellieren an ihre Kunden, die das Glück haben, nachts in warmen Betten liegen: „Sie wissen nicht, warum andere dieses Glück nicht haben. Zeigen Sie Menschlichkeit! Es ist schon schlimm genug.“


 

Linie 13

 

Linie 13 in Köln. Montagmorgen 8:07 Uhr. „Die Fahrscheine, bitte!“ In der Straßenbahn neben mir sitzt eine alte kleine Dame, bestimmt schon über 80 Jahre. Und während ich in meiner Tasche nach meinem Ticket krame, sitzt sie regungslos da. „Werte Frau, Ihren Fahrschein, bitte!“ Die alte Dame schaut den Kontrolleur an und sagt dann: „Ich habe keinen. Ich fahre gerade zu meinen beiden Enkelkindern nach Mülheim. Schauen Sie, ich könnte Ihnen jetzt sagen, dass der Fahrscheinautomat viel zu kompliziert ist. Oder vorgeben, ich sei verwirrt. Wahrscheinlich würden Sie mir glauben. Die Wahrheit ist aber, dass wir Ende des Monats haben. Das Geld hat schlicht nicht mehr gereicht für ein Ticket.  Da ich die Kleinen aber unbedingt sehen wollte, bin ich das Risiko eingegangen.“ Der Kontrolleur ist sichtlich überrascht, ihm fehlen die Worte. „Mir ging es in meinem Leben schon weitaus schlechter“, fährt die alte Dame fort, „aber gelogen habe ich noch nie. Junger Mann, schreiben Sie mich ruhig auf!“ Sie hält ihm ihren Personalausweis hin.

Der Kontrolleur schaut jedoch nicht auf den Ausweis. Er blickt der Dame in die Augen. Holt tief Luft. Und dreht sich um. Er geht zum Ticketautomaten und öffnet sein eigenes Portemonnaie. Dann kehrt er zurück: „Ich habe Ihnen ein Ticket gekauft. Es gilt für vier Fahrten. Damit können Sie Ihre Enkel diese Woche zweimal sehen.“ Jetzt ist die alte Dame sprachlos.

Der Autor Jun Hao Hung hat diese Straßenbahnszene notiert. Er teilt unter Pseudonym seine alltäglichen Beobachtungen auf der Internetplattform Facebook. Seine Geschichte aus der Kölner Linie 13 wurde vielfach geteilt und kommentiert. Zurecht, finde ich! Denn sie ist ein wunderbares Lehrstück darüber, wie schön es ist, einfach mal sprachlos zu sein. Warum? Weil hier nicht die Vorschrift, sondern das Verständnis obsiegt. Weil nicht alles, was recht wäre, auch richtig sein muss. Manchmal gewinnen wir gerade dort an Haltung und Größe, wo wir großzügig mit anderen und ihren Fehlern sind.

Wer das biblischer hören will, der mag sich an einen Grundsatz Jesu erinnern, wonach das Gesetz um des Menschen willen und nicht der Mensch um des Gesetzes willen da sei. Ein wichtiger Gedanke, der sagt: Es kann Umstände geben, da gelten das eigene Gewissen und das Gebot der Mitmenschlichkeit mehr als alle Gesetze. Der Theologe Ernst Lange hat diesen Grundsatz Jesu so gefasst: „Glücklich sind die, die sich um des Mitmenschen willen verlieren: Sie sind von Gott gefunden.“ Wie schön ist es, wenn uns das öfters einmal sprachlos macht!


 

Niemand soll vergessen!

 

Zärtlicher kann man Blätter nicht berühren. Behutsam streicht Joan Mastropaolo über den kleinen Birnbaum mit besonderer Geschichte. Man nennt ihn den „Survivor Tree“. Er hat die schrecklichen Terroranschläge auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 unter Bergen von Schutt überstanden. Und dann wurde er nach sorgsamer Pflege in einer Baumschule zehn Jahre später im Schatten der Gedenkstätte von Nine-Eleven wieder eingepflanzt.

Joan Mastropaolo sagt, der Survivor Tree sei für sie das vielleicht schönste Symbol für die Unverwüstlichkeit und den Überlebenswillen ihrer Stadt nach dem 11. September. Vor elf Jahren fing die Enkelin sizilianischer Einwanderer an, ehrenamtlich Besucherinnen und Besucher durch die Gedenkstätte am Ground Zero zu führen. Es tue ihr gut, sagt die 62jährige, über ihre Erfahrungen zu sprechen: „Immer wieder muss ich neu darüber reden, das ist meine Therapie. Ich werde weiter machen, solange ich laufen und atmen kann.“

Beim Gang entlang der bronzenen Brüstung, in welche die Namen der über 3000 Opfer von New York, Washington und Shanksville/Pennsylvania ein gestanzt sind, hält Joan immer wieder an. Behutsam berührt sie die Namenszüge ihr bekannter Menschen, erzählt Anekdoten und sagt da, wo eine weiße Rose in den Fugen steckt, einen kurzen Geburtstagsgruß. „Ich will die Geschichten derer, die hier gestorben sind, am Leben erhalten“, erzählt sie. „Die Geschichte des 11. September darf für künftige Generationen nicht verloren gehen.“ Und immer, wenn Joan Mastropaolo von ihrer Arbeit an dieser Gedenkstätte des Grauens erschöpft ist, sucht sie Kraft und Trost am kleinen Birnbaum, dem Survivor Tree.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem." Diesen Satz schreibt der Apostel Paulus im Römerbrief. Es sind Worte, wie gemacht für diesen 11. September mit seinen schrecklichen Erinnerungen. Ich höre ihn so: In jeden von uns ist schöpferische Kraft gelegt, zwischen gut und böse zu wählen; dem Leben zu dienen oder es zu zerstören. Gut und böse sind dabei niemals Kategorien der Unterscheidungen zwischen mir und anderen, sondern beides liegt immer auch in mir selbst. Es ist gut, das niemals zu vergessen!


 

Mitgefühl schenkt Leben

 

Emilio Márquez aus Puerto Rico ist seit einigen Tagen offiziell der älteste Mann der Welt. Dieser Titel wurde ihm nach gründlicher Prüfung vom Guinness-Buch der Rekorde verliehen. Emilio ist nach bestätigten Angaben 112 Jahre und 336 Tage alt; er ist schon seit langem Witwer und hat vier Kinder, inzwischen ebenfalls im Seniorenalter.

Üblicherweise werden solche „Alters-Rekordhalter“ ja gefragt, wie sie das denn wohl gemacht hätten mit ihrem sprichwörtlich biblischen Alter. Man hört dann freundliche bis eigensinnige Antworten: Die einen haben jeden Tag ein Glas Rotwein oder Bier getrunken. Andere haben täglich lange Spaziergänge gemacht oder nie Alkohol getrunken. Das alles klingt dann immer ein wenig nach Rezept.

Bei Emilio Márquez ist das anders gewesen. Auch er wurde gefragt, was ihn seiner Meinung nach so lange hat leben lassen. Auch er hat geantwortet, aber wie! Das Geheimnis seiner Langlebigkeit - 112 Jahre und 336 Tage - liege schlicht „im Mitgefühl“. Das ist eine eigenwillige und zugleich besonders schöne Antwort, finde ich: Mitgefühl schenkt Leben. Vielleicht nicht immer ein besonders langes, wie bei Emilio, aber immer ein aufmerksames Leben mit Blick nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere.

Mitgefühl schenkt Leben. Emilios Antwort erinnert mich an jenen Menschen, der zu Jesus kommt und ihn fragt: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Auch bei dieser Frage geht es nicht zuerst um die Länge des Lebens, sondern vielmehr um seine Tiefe, seinen Wert. Auf die Gegenfrage Jesu, was denn die Bibel dazu sage, antwortet der Mensch kurz und knapp: Man solle Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. Die Reaktion Jesu darauf ist ebenfalls kurz und knapp: „Tu das, so wirst du leben!“ (nachzulesen im Lukasevangelium, Kapitel 10)

Emilio denkt ähnlich wie Jesus, könnte man sagen: Mitgefühl macht lebendig und hält lebendig. Es werden dann nicht immer sagenhafte 112 Jahre sein, manche möchten das wohl auch gar nicht. Aber eine besondere Tiefe, einen Sinn fürs Leben schenkt das ehrliche Mitgefühl allemal. Wer andere achten kann „wie sich selbst“, wer sich bemüht, möglichst wenig auf Kosten anderer zu lesen, der spürt jeden Tag etwas vom Wert und Sinn des eigenen Lebens. Für seinen 113. Geburtstag, sagt Emilio Márquez, habe er darum nichts Besonderes geplant.


 

Eine Geschichte zum 20. Juli

 

Je älter er wurde, desto öfter habe er sich geschämt, wenn der 20. Juli kam. Er sei damals auch gefragt worden, erzählt er, im Mai 1944: „Mach doch mit, Carl, bitte!"
Sein bester Freund kam damals zu ihm und sagte ihm das mit genau diesen Worten.
Er weiß sie bis heute noch: „Mach doch mit, Carl, bitte!"

Es ging um das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Carl war entsetzt über das Vorhaben: Den „Führer“ ermorden. Das Unrecht und den Krieg beenden. Eine neue Regierung bilden. Und er sollte dabei mitmachen. Bei einer Verschwörung? Niemals!
Das kam für den jungen Offizier überhaupt nicht infrage. Er hatte schließlich einen Eid geleistet. Schlimm genug, dass er jetzt etwas gehört hatte und davon wusste. Aber er habe damals dichtgehalten und den Kameraden nicht verraten.

„Mach doch mit, Carl, bitte!" Dieser Satz blieb im Kopf. Und später, lange nach dem Krieg, fing Carl öfter an zu grübeln, immer so um den 20. Juli herum. Er hatte viel gehört und noch mehr gelesen, was es auf sich hatte mit den Frauen und Männern des 20. Juli. Hätte er damals mitgemacht, wäre er jetzt vielleicht tot. Doch er lebte, wenn auch mit einem blinden Fleck im eigenen Gewissen.

Es gibt Momente, da müsste man mutig sein, richtig mutig; und ist es nicht. Und es gibt Momente, da kann man alles nur falsch machen. Eine Art heiligen Eid brechen, ist falsch; Kriege und Kriegsverbrechen sind falsch. So dachte es Carl damals. Manchmal wird man eben zu spät klug, sagte er mit Blick zurück. Eines habe er sich immer gewünscht: Dass Gott hoffentlich auch den Mutlosen verzeiht so, wie wir es in jedem Vaterunser für uns und andere erbitten: „Vergib uns die Schuld, führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns von dem Bösen."

In diesen alten Bitten des Vatersunsers klingt etwas an, das wir für unser Menschsein nie vergessen sollten: Jeder von uns kann in den Versuchungen und Krisen des Lebens ins Böse straucheln. Ohne Gnade werden Fehler bis ins Letzte verfolgt. Wer das anders will, der ist darauf angewiesen, dass er Vergebung erfährt, und der muss lernen, anderen zu vergeben. Darum bitten wir: Vergib uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns von dem Bösen."

„Mach doch mit, Carl, bitte!" Er hat damals am 20. Juli 1944 nicht mitgemacht. Die Scham darüber blieb sein Leben lang. Darum wollte er ein klein wenig wiedergutmachen. Ganz unauffällig. So richtig wissen sollte davon niemand. Er hat lange gesucht, wo er ein wenig helfen kann. Schließlich fand er einen Verein, der notleidende Familien in Polen und Russland unterstützt. So spendete Carl jahrelang für arme oder kranke Kinder. Das habe sein Herz und Gewissen leichter gemacht. Danke, Carl, für dieses Tun!


 

Brot am Haken

 

"Danket dem Herrn;
denn er ist freundlich,
und seine Güte wäret ewiglich."

Der kleine Bäckerladen liegt an einer Hauptverkehrsstraße
im Hamburger Stadtteil Wandsbek.
Am Stehtisch trinken Männer Ende 50 eine Tasse Kaffee.
Keine Kundschaft, die erfolgreiche Geschäfte verspricht.
Dennoch sind sie hier willkommen.
Kaffee, Kuchen und Brot hängen für sie am Haken.

Brot am Haken heißt die Aktion,
die diese Wandsbeker Bäckerei so besonders macht.
Wenn Kunden Geld übrig haben, dann zahlen sie
einen Kaffee, ein Stück Kuchen oder ein Brot mehr,
als sie haben wollen. Und der Bäcker hängt dafür
einen Gutschein an den Haken über der Ladentheke.
Wer wenig oder gar kein Geld hat,
kann sich an den Haken bedienen.
Dann bekommt er oder sie Backwaren
und Heißgetränke kostenlos.
Der Hamburger Bäckermeister erzählt,
dass viele Kunden seinen Laden
mit einem Lächeln verlassen.
Die einen geben gern.
Einen Kaffee oder ein Brot zu spenden,
das tut ihrem Geldbeutel nicht weh.
Und die Beschenkten freuen sich -
auch darüber, dass sie anderen nicht egal sind.

"Danket dem Herrn;
denn er ist freundlich,
und seine Güte wäret ewiglich."

Alle waren hungrig am Abend eines langen Tages.
Alle. Die Kinder, die Erwachsenen.
Fast fünftausend sollen es gewesen sein,
erzählt die Bibel. Alle hungrig.
Wie soll das bisschen, das wir selbst haben,
denn reichen, um alle satt zu machen?
Verständlich die Frage der Jünger Jesu.
Haben wir überhaupt das, was satt machen kann,
was Herzen und Köpfe füllt und bewegt?
Und Jesus sagt:
Lagert die Menschen zusammen.
Macht aus der Menge eine Gemeinschaft:
Menschen, die einander ansehen,
sich wahrnehmen und füreinander sorgen.
Und dann teilt aus, was ich euch gebe.
Tragt weiter, was ihr vom Glauben begriffen habt.
Denn so können Wunder geschehen:
Brote brechen, Fische teilen.
Gott danken, Menschen sattmachen.
Und es bleibt noch überreich zurück.
Gut so, denn auch morgen werden
die Menschen wieder Hunger haben.

Essen und satt werden:
Sehr oft erzählt die Bibel Geschichten,
in denen genau das passiert.
Da hungern Menschen zunächst.
Und doch werden sie satt.
Sie haben wenig.
Und doch erfahren sie die Fülle des Lebens.
Und sie erfahren: Es ist genug.

"Danket dem Herrn;
denn er ist freundlich,
und seine Güte wäret ewiglich."

"Das Christentum tritt als Ess- und Trinkgemeinschaft,
als eine Mahlgemeinschaft in die Geschichte ein,
nicht zuerst als eine Lehrveranstaltung
und Diskussionsrunde."
Das schreibt der Theologe Karl-Heinz Bieritz
mit Blick auf die Anfänge unseres christlichen Glaubens.
Und ganz handfest erzählt das Evangelium davon,
was uns als Gemeinden Jesu auch heute prägen soll:
Wer mit anderen an einem Tisch sitzt, gehört dazu.
Wer am Tisch des Herrn gemeinsam feiert,
der kann sich im Alltag der Welt nicht gleichgültig sein.
Wer im Glauben zusammengehört,
soll sich im Leben beistehen.
Liturgie und Diakonie,
das Lob Gottes und das solidarische Leben,
sind immer zwei Seiten des einen Glaubens.
Gut, wenn wir das nie vergessen!

Im Hamburger Bäckerladen gehören die Haken
überm Tresen nun schon seit über zehn Jahren dazu.
Sie sind nicht mehr wegzudenken.
Ja, sagt der Bäcker: Es hat am Anfang ein wenig gedauert,
bis sich die Kunden trauten,
die Gutscheine auch von den Haken zu nehmen.
Aber wir dürfen uns nicht daran gewöhnen,
dass sich Menschen das tägliche Brot nicht leisten können.
Wenn ihm durch die großen Schaufenstern
ein Zögern vor der Tür aufgefallen sei,
dann sei er halt hinausgegangen und habe gefragt,
ob man nicht auf einen Kaffee hereinkommen wolle.
Mittlerweile sei es ein sehr selbstverständliches,
tägliches Geben und Nehmen.

So ist das mit dem Brot am Haken.
So soll es sein mit unserem Glauben:
Empfangen und Weitergeben. Brot und Leben teilen.
Mit anderen auf Gott vertrauen - und dann weitergehen

"Danket dem Herrn; denn er ist freundlich,
und seine Güte wäret ewiglich."
Amen.


Mehr zur Aktion Brot vom Haken lesen Sie hier.


 

Tausend Engel am Werk

 

Der Schock kam plötzlich und war riesengroß. Die Nachricht habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, sagt sie: Ihre Tochter Fiona, vier Jahre alt, erkrankte an Leukämie, der häufigsten Krebs-Erkrankung bei Kindern. Jetzt mussten die alleinerziehende Mutter und Fionas ältere Schwester ganz für die kranke Tochter und Schwester da sein. Aber zugleich musste die Mutter auch weiter Geld verdienen. Dem tiefen Erschrecken folgt damit sofort die nächste große Angst. Allerdings nicht lange.

Über einen Aufruf erfuhren die Kolleginnen und Kollegen in der großen Firma vom Schicksal der Familie. Und viele spendeten. Nein, kein Geld, sondern etwas viel Wertvolleres: Zeit. Sie spendeten Urlaubstage und Überstunden. So kamen insgesamt über viel Jahre bezahlte Arbeitszeit zusammen. Die Mutter konnte nun zuhause bleiben, mit ihrem vollen Gehalt fast ein halbes Jahr. Dann war ihre Tochter nach langen Aufenthalten im Krankenhaus auf dem Weg der Besserung. Die Mutter sagt: „Nun hat Fiona das Schlimmste geschafft. Ihre Heilungschancen liegen bei 90 Prozent.“ Und dann sagt sie: „Hier waren tausend Engel am Werk!“

Manchmal ist es einfach erstaunlich, was wir Menschen alles zustande bringen, wenn wir nur wollen; wenn wir die Sorgen anderer lindern möchten. Die Kolleginnen und Kollegen der Mutter folgten einer großartigen Idee. Viele verzichteten einfach auf zwei oder drei Tage Urlaub, damit die Familie weniger Sorgen haben musste. Ein kleines Opfer mit großer Wirkung! Und weil im Urlaubs-Spendentopf noch dreieinhalb Jahre übrig sind, will die Firma von Fionas Mutter genau so weitermachen. Wer es braucht, soll sich gerne melden. Und darf dann bezahlt zu Hause bleiben.

„Hier waren tausend Engel am Werk!“ Ja: Es ist gut, wenn der Himmel bei schweren Schicksalsschlägen heilend seine Finger im Spiel hat. Aber noch schöner ist es, wenn wir Menschen einander tief in die Seele schauen und uns fragen: Was braucht der andere jetzt? Was hat die andere gerade nötig? Geht es um gute Worte, um starke Arme oder um Geld? Und wo lassen sich noch andere finden, die mithelfen zu tragen, was für einen oder zwei allein zu schwer ist? Wenn wir so auf das Leben um uns schauen, kommen bestimmt einige Menschen zusammen, die andere nicht allein verstehen, sondern auch erfühlen können. Von diesen Menschen gilt, frei nach Martin Luther: Wer solche Engel zu Freunden hat, der braucht die Welt nicht zu fürchten.


 

Fairness gewinnt

 

Fußball und Fairness: Dieses Paar hat es nicht immer leicht miteinander!
Wo der Einsatz hoch ist und viel auf dem Spiel steht, sorgt mancher eher fürs Gewinnen um jeden Preis. Nicht so der Trainer des englischen Fußballclubs Leeds United. Der sorgt bei einem wichtigen Pflichtspiel seiner Mannschaft im vergangenen Jahr für einen außergewöhnlichen Moment der Fairness.

Im Aufstiegsrennen der zweiten englischen Fußballliga drängt seine Mannschaft auf ein Tor und beachtet dabei nicht, dass ein Spieler der gegnerischen Mannschaft verletzt am Boden liegt. Fair wäre es dann, den Ball ins Aus zu spielen und so die Behandlung des Verletzten zu ermöglichen. Das tun die Spieler von Leeds United aber nicht. Im Gegenteil: sie stürmen weiter und erzielen das wichtige 1:0.

Doch der Torjubel währt nur kurz, denn an der Seitenlinie ist der Trainer augenscheinlich sehr verärgert. Mit deutlichen Worten und Gesten fordert er seine Mannschaft auf, nun ein Tor für die Gegner zuzulassen. Die stoßen dann wieder an und kombinieren sich unbehelligt durch die Reihen der anderen bis zum Tor. Auch der Torwart rührt sich nicht. So fällt ein lockeres 1:1. Die Fairness gewinnt. Und später steigt Leeds United dennoch auf.

Die Fairness soll gewinnen! Das ist ein wichtiger Gedanke vor allem, weil das nicht immer so ist. Oft bleiben offensichtliche Ungerechtigkeiten unbeachtet. Nicht nur im Fußball ist das so. Unbedingt gewinnen zu wollen, ist ein echter Volkssport geworden. Nur Zweiter zu sein, betrachten viele schon als schwere Niederlage. Da kommt es gerade recht, wenn ein Trainer die Fairness vor das Gewinnen stellt.

„Du darfst gewinnen wollen, aber nicht um jeden Preis!“ Nicht nur wer mit seinen Kindern und Enkeln spielt, weiß, wie mühsam diese Regel gelernt werden muss. Gut sich daran zu erinnern, meine ich: Nicht jeder Sieg muss ein Gewinn sein, aber Fairness ist immer ein Gewinn an Menschlichkeit. Nicht nur im Sport, sondern in unserem alltäglichen Miteinander. Wenn nicht nur zählt, was ich will, sondern auch, was für andere recht und billig ist.

Der Theologe Ernst Lange schreibt dazu, inspiriert durch die Seligpreisungen Jesu, einen klugen Satz: „Glücklich sind die, die sich um des Mitmenschen willen verlieren: Sie sind von Gott gefunden.“ Manchmal gewinnen wir gerade dort an Haltung und Menschlichkeit, wo wir auf einen Sieg verzichten können.    


 

22. Juni 1941

 

Ein schlimmer Tag war das, erinnern sich die inzwischen hochbetagten Zeitzeugen. Sie blicken auf den 22. Juni 1941 zurück, heute vor achtzig Jahren. Da begann unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. Mit rund 3,3 Millionen Soldaten griff die deutsche Wehrmacht zwischen Ostsee und Schwarzem Meer auf breiter Front an.

Manche meinten damals am Morgen, sie hörten vielleicht nicht richtig am Weltempfänger: Russland? Da gab es doch schon über längere Zeit einen sogenannten Nichtangriffspakt! Als hätte Adolf Hitler das interessiert. Den Pakt gab es nur, damit die deutsche Wehrmacht 1939 unbehelligt in Polen einmarschieren konnte. Als der Pakt ihm nichts mehr nützte, erteilte Hitler den Befehl zum Überfall auf die Sowjetunion, für den es auch von kirchlicher Seite viel Zustimmung gab. Weihnachten 1941 wollten sie gewonnen haben und nach Hause zurückkehren. Vier Jahre später war alles verloren. Allein in Russland gab es über 25 Millionen tote Soldaten und Zivilisten. Fünf Millionen deutsche Soldaten verloren das Leben.

Ein schlimmer Tag, der 22. Juni 1941. Heute wissen und bekennen wir: Der Überfall auf die Sowjetunion war ein schweres Verbrechen, das sich bitter rächte. Deutschland wurde zum Trümmerland. Und warum das alles? Aus ideologischem Größenwahn, aus „Deutschland über allem!“ Man kann fremde Menschen kaum mehr verachten als die Nationalsozialisten und ihr sogenanntes Drittes Reich dies taten. Es ist wichtig, dass wir uns das immer wieder ins Bewusstsein rufen, meine ich.

Alles Unglück in der Welt beginnt mit einem verächtlichen Blick. Den Blicken folgen dann oft verächtliche Worte und irgendwann, wenn man nicht gut aufpasst, die bösen Taten wie von selbst. Wer das verhindern will, der fängt am besten immer ganz vorne an: Der macht nicht mit bei der Verachtung. Der versagt sich jeden anmaßenden, verächtlichen Blick auf andere. Wer Frieden schaffen oder bewahren will, der darf nicht lügen. Keinerlei Gerüchte ausstreuen. Über die Nachbarn nicht, über Kolleginnen und Kollegen nicht. Über Andersdenkende und Andersglaubende nicht. Über niemanden.

„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen!“  Diesen Satz sagt Jesus in der Bergpredigt. Das sind starke Worte wie ein Leuchtturm gegen die gewaltsamen Konflikte in den Geschichtsbüchern und in unserer Gegenwart. Selig sind nicht die, die andere hassen und verachten. Gottes Kinder heißen die Menschen, die ihre Fantasie für friedliche Wege nutzen und ihre Kraft für Versöhnung einsetzen. Damit sich schlimme Tage wie der 22. Juni 1941 nicht wiederholen.

Friedensbitte

Gott,
mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich Liebe übe, wo man sich hasst,
dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,
dass ich verbinde, da, wo Streit ist,
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum herrscht,
dass ich den Glauben bringe, wo Zweifel drückt,
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,
dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,
dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.

Gott,
lass mich danach trachten:
nicht, dass ich getröstet werde,
sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde,
sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde,
sondern dass ich liebe.
Denn wer da  hingibt,der empfängt;
wer sich selbst vergißt, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben.


 

Dem Glück gewachsen

 

Rainer Holmer hat einen ausgefallenen Beruf: Er betreut Lottogewinner. Wenn Menschen über einhunderttausend Euro gewonnen haben und ihr Schein geprüft wird, können sie in die Lotto-Zentrale fahren und werden dort persönlich beglückwünscht.

Es sei ein sehr angenehmer Beruf, sagt Rainer Holmer. Denn er begegne überwiegend glücklichen Menschen. Und dann er erzählt, wie das ist mit einem großen Gewinn und den dazu gehörenden Lottoscheinen, die bis zur Prüfung oft gut versteckt werden in Kaffeedosen, Gefrierschränken oder unter Kopfkissen. Wobei das Kopfkissen nicht die beste Wahl sei, so Holmer: Aus Furcht, den Schein dort zu zerstören, schliefen viele schlecht.

Und dann sagt der Gewinnbetreuer einen bedenkenswerten Satz: „Man muss seinem Glück auch gewachsen sein.“ Bei manchen sei das Geld schnell wieder verschwunden durch falsche Berater oder Freunde. Die Mehrzahl der Gewinner bliebe aber auch im Lotto-Glück vernünftig. Einige brechen ihr altes Leben ab und beginnen ein völlig neues. Und manche Menschen bleiben trotz des Geldsegens traurig. Einmal habe einer mehrere Millionen gewonnen und dann gesagt, dass er sofort alles da ließe, wenn seine Frau dafür wieder gesund würde. Für manchen Wunsch ist kein Gewinn groß genug.

Man muss seinem Glück gewachsen sein. Und seinem Unglück auch! Wer diesen Gedanken biblisch hören will, der wirft einen Blick ins Buch Hiob im Alten Testament. Dort sagt Hiob, der unerklärlich schwer leiden muss und in allem doch von Gott nicht lassen will, einen bemerkenswerten Satz: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sein gelobt.“

Ich höre diesen Satz so: Alles in unserem Leben ist letztlich Gabe Gottes. Und nicht immer verstehen wir, was uns gegeben oder zugemutet ist. Oder anders gesagt, im Bild des Lottogewinns: Im Rahmen der Wahrscheinlichkeit gedacht ist ein solcher Lottogewinn so gut wie ausgeschlossen. Trifft er doch ein, ist es ein nahezu unmögliches Glück. Aber eben nur nahezu. Denn den Nachdenklichen bleibt eine Frage: Ist das, was mir geschieht, nur blinder Zufall - oder aber eine Gabe, mit der ich leben soll und umgehen darf?

Wohl denen, die eine Antwort suchen auf diese Frage, und nicht einfach hinnehmen, was ihnen an Glück oder Unglück geschieht. Wer eine Antwort weiß auf den Urheber seines Lebens, der darf gewißer leben. Und macht sich fest an Gott als Grund des Lebens - mit seinen glücklichen und unglücklichen Momenten.


 

"Wir haben Zuversicht!"

 

Kurz und knapp titelt die Braunschweiger Zeitung: „Wir haben Zuversicht!“ Die Redaktion hat eine neue Serie ins Leben gerufen. Sie soll von dem erzählen, was jeder und jede von in diesem Jahr so nötig hat: die Rückkehr der Zuversicht, den Einzug der Normalität in den kleinen und großen Alltag.

"Wir haben Zuversicht!" Man kann diesen Satz trotzig sprechen: "Irgendwann geht es wieder bergauf!“ Aber besser hört und sagt man ihn hoffnungsfroh. Und liest dann in der Zeitung ganz passend von Menschen und ihren guten, zuversichtlichen Ideen. Ganz oben dabei: Rausgehen, den Sommer genießen und dabei achtsam und aufmerksam bleiben. Ja, so könnte es gehen mit der Zuversicht in diesem zweiten Sommer unter Corona!

Einer aktuellen amerikanischen Studie zufolge tut es uns Menschen und unserer Zuversicht vor allem gut, wenn wir Naturgeräusche suchen und sie auf uns wirken lassen: das Vogelgezwitscher, den Wind, der durch Baumkronen weht, das plätschernde Wasser. Diese Geräusche fördern die angenehmen Stimmungen in uns, erklärt die Studie. Denn sie liefern Signale für Sicherheit und eine geordnete Welt ohne Gefahren. Und dann schreiben die Forscher einen klugen Satz „Beim Lauschen auf Naturgeräusche richten wir Menschen unsere Aufmerksamkeit nach außen - und können innerlich entspannen“.

Wer sein Ohr an die Natur legt, der kann die Zuversicht atmen hören! Dieser Gedanken klingt auch aus einem wunderbaren Kirchenlied, dessen Text der Pädagoge und Dichter Joachim Neander vor über 350 Jahren gedichtet hat: „Himmel, Erde, Luft und Meer zeugen von des Schöpfers Ehr; meine Seele, singe du, bring auch jetzt dein Lob herzu." Sechs Srophen entfalten Wort für Wort eine Hymne auf den Schöpfergeist, der sich in der lebendigen Natur und ihre Geräuschen zeigt: „Ach mein Gott, wie wunderbar stellst du dich der Seele dar."

„Wir haben Zuversicht!“ Zuversicht bedeutet auch, darum zu wissen, dass uns Gott nicht fallen lässt, nie fallen lässt. Auch wenn wir viele Fragen an Gott haben und mancherlei Sorgen um uns und andere: Wir bleiben Gottes Geschöpfe und als solche in seiner Schöpfung geborgen.  Bei Joachim Neander klingt dieser Gedanken so: „Drücke stets in meinen Sinn, was du bist und was ich bin!"


 

"Mach aus der Welt ein Wort" Predigtgedanken zur Ausstellung Schöpfung

 

"Sprich
lieber Freund
ich weiß
du kannst zaubern
mach aus der Welt
ein Wort
dein Wort
ist eine Welt."

Das sind Verse der Dichterin Rose Ausländer,
deren Gedichte so viel Sprachkraft besitzen
und oft voll biblischer Erinnerungen sind.
Es sind Texte, die den Glauben ins Gespräch ziehen,
ohne dass sie sich verengen oder vereinnahmen ließen.

"Sprich, lieber Freund:
Mach aus der Welt ein Wort!
Dein Wort ist eine Welt!"

Ja, so ist es gewesen, an aller Welt Anfang:
Gott spricht - und es wird:
Himmel und Erde, Licht und Finsternis,
Tag und Nacht, Tier und Mensch
in einer Lebenswelt.
Das alles wird durch Gottes schöpferisches Wort.
Gott handelt nicht einfach, er spricht an
und ruft hervor. Es ist die Art und Weise,
in der Gott erkennbar und erfahrbar wird.

Die lange jüdsch-christliche Glaubenstradition,
die in den Schöpfungserzählungen des ersten
Mosebuches ihren Anfang nimmt,
lebt wesentlich von eben dieser Gewissheit:
dass Anfang und Grund aller Dinge nicht eisige Stummheit ist,
sondern dass der Kern allen Lebens das Wort ist
in Anrede, Zuspruch und Trost.
Gott spricht und er ist ansprechbar.
Gott ist kein stummer Gigant.
Gott ist Mitteilung.
Ein Gott, der im Wort ist -
und auf Antwort aus ist.

"Sprich lieber Freund
ich weiß
du kannst zaubern
mach aus der Welt
ein Wort
dein Wort
ist eine Welt."

Aus eben diesem Wort formen wir,
Christen wie Juden, bis heute unsere
Glaubenssprache, die nie bei sich bleiben kann,
sondern immer das Andere, das Gegenüber sucht.

Was ist Schöpfung für dich?
Diese Frage hast du uns, liebe Babette Worbs,
mit deinen Bildern ins Kirchenhaus geliefert.
Und du hast selbst Gedanken dazu formuliert,
die sich in deinen Bildern dialektisch entfalten:
Schöpfung ist gewaltig und imposant.
Schöpfung ist sensible und schützenswert.
Schöpfung zeugt von der Größe Gottes.
Und Schöpfung ist niemals abschließbarer Raum
für Begegnung von Mensch und Natur und Gott.

Aus den verschiedenen Begegnungen -
vor allem mit den Kindern und Jugendlichen –
ist mir ein Gedanke in Kopf und Herz geblieben:
Dieser Gott, dessen Wort die Welt aus dem
Chaos hebt und so sorgsam ordnet,
dieser Gott verliert sich nicht in den Weiten des Alls,
sondern sucht und findet seinen Ort
mitten in unserem Leben.

Eine Konfirmandin hat es mit Blick
auf ihr eigenes Schöpfungsbild so gesagt:
"Gott hat die fernen Galaxien geschaffen
und ist doch nicht fern, sondern ganz nah bei mir."

Und Gott berührt unser Herz,
wenn wir darüber staunen können,
dass etwas ist und nicht nichts,
wenn im Reichtum und in der Schönheit dieser Welt
nicht bloß den Zufall am Werke sehen,
sondern Gott erkennen.
Das soll uns Menschen achtsam und empfindlich
machen für das Leben, das uns umgibt.

Ihr seid geschaffen, erinnert uns die Bibel.
Und in jeden von euch ist schöpferische Kraft gelegt,
zu wählen zwischen Gutem oder Schlechtem,
dem Leben zu dienen oder es zu zerstören.
Der Mensch als Geschöpf Gottes ist und bleibt
die drängendste Gefahr und zugleich die größte Hoffnung
für diesen Lebensraum Erde.
Gut, dass nie zu vergessen, meine ich.

Was ist Schöpfung für dich?
Sie ist Wortgeschehen, Sprachereignis,
das die Welt hervorbringt,
in der wir miteinander leben können.
Der Glaube an diese Schöpfung
kann wie Musik alle Dinge durchziehen
und lässt auch uns erklingen.

Sprich lieber Freund
ich weiß
du kannst zaubern
mach aus der Welt
ein Wort
dein Wort
ist eine Welt.

Gebet

Gott,
die Schöpfung lebt von deinen Gaben.
Mit deinem Geist gibst du ihr das Leben.
Mit deiner Liebe gibst du ihr das Ziel.
Mit deinem Wort gibst du ihr deine Nähe.

Wir bitten dich um deinen Geist
für die Kranken und alle,
die sich fürchten, krank zu werden;
für den bedrohten Lebensraum Erde
und alle, die sie bewohnen.
Schenke deinen Geist und erbarme dich.

Wir bitten dich um deine Liebe
für unsere Kinder und alle,
die sich in diesen Monaten mit Sorgen aufreiben;
für alle, die ihre Kraft für andere einsetzen.
Schenke deine Liebe und erbarme dich.


Wir bitten dich um dein Wort
zu den Ratlosen und zu den Suchenden,
zu allen, die von Zweifeln geplagt werden,
zu allen, die nach dir fragen.
Gib uns dein Wort und erbarme dich.

In der Stille sagen wir dir, Gott,
was uns in Herzen und Gedanken bewegt.

Sei allen nahe, die wir lieben.
Sei allen nahe, die uns anvertraut sind.
Sei uns nahe in dieser Zeit.
Amen.


Bis zum 13. Juni waren die Schöpfungsbilder der Lüneburger Künstlerin Babette Worbs im Chorraum der Magni-Kirche zu sehen. Informationen zum besonderen Ausstellungsprojekt gibt es hier.


 

"Was gegen die Angst hilft"

 

Es ist sein großer Tag, aber Jack hat Angst. Er ist Autist und leidet seit seiner Kindheit an einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, die das soziale Verhalten zu anderen einschränkt und verändert. Bei Jack ist es vor allem die Angst vor lauten Geräuschen. In der Welt, die ihn umgibt, ist für Jack oft zu viel Lärm. Aber jetzt ist sein großer Tag da: In seiner Schule werden die Abschlusszeugnisse überreicht. Auch Jack hat alle Prüfungen bestanden. In einer großen Halle findet die Ehrung statt. Und alle sind da: die Mitschüler, die Lehrinnen und Lehrer, Familien und Freunde der Absolventen. Es gibt viel Applaus, Hallo und Hurra!

Als Jack an der Reihe ist, schickt seine Mutter ihn los. Die ganze Zeit schon hält er sich mit den Händen die Ohren zu. So bleibt der Kopf ein wenig vor dem Lärm geschützt. Als Jack beim Direktor auf der Bühne angekommen ist und sich zu den Menschen umdreht, kann er es kaum glauben: Die Menschen deuten ein Klatschen nur an. Viele winken ihm zu. Dabei ist es ganz leise in der großen Halle, so dass Jack die Hände von seinen Ohren nehmen kann.

Es ist ein großer Augenblick für Jack und seine Familie. Es ist ein großer Tag auch für seine Schule. Der Schuldirektor freut sich für seinen Schüler, noch mehr aber freut er sich über das Empfinden der Schulgemeinschaft. Der örtlichen Zeitung sagt er später: „Ich glaube an das Mitgefühl.“

Für viele Menschen ist Angst, wie für Jack, ein wesentlicher Faktor in der Gleichung ihres Lebens, der sich nicht einfach wegkürzen lässt. Aber zugleich gilt: Was sich beeinflussen lässt, ist unsere Haltung zu ihr.

Im Neuen Testament, im Johannesevangelium steht ein kurzer Satz, den Jesus gesagt hat über das Leben mit der Angst: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Ich höre das so: Der Angst können wir Menschen nicht entkommen. Sie gehört zu unserem Leben. Aber sie muss keine unbeeinflussbare Lebenskonstante bleiben. Wir können und sollen gegen die Angst angehen, Gegenkräfte entwickeln. Eine Gegenkraft ist die Erfahrung, mit seinen Ängsten und Zweifeln nicht allein zu stehen, sondern von anderen verstanden zu werden.

Angst kann man nicht weg reden, man soll ihr Mitgefühl entgegenbringen. Indem man sie erstnimmt, wird die Angst nicht immer gleich leichter, aber leichter erträglich.


 

"Gottes Geisteskraft ist unterwegs." Gedanken zu Pfingsten

 

Ganz plötzlich kam es. So wird erzählt:
Das Sausen und Brausen.
Gottes Geisteskraft ist unterwegs.
Sie weht in die Herzen der Freude Jesu und lockt
sie aus dem Häuschen, ganz wörtlich gemeint:
Denn sie hatten sich versteckt.
Sie saßen beisammen in einem Haus.
Wohl eher mut- und ratlos, denke ich.
Denn Jesus war weg, auf und davon in den Himmel.
Doch jetzt wirkt die Geisteskraft in ihnen.
Und sie treten ans Licht, gehen aus sich heraus.

Ich stelle mir das vor:
Einfache Leute sind das. Aus der Provinz.
Ein bunter Haufen von Männern und Frauen.
Jetzt sind sie in Jerusalem, der Heiligen Stadt.
Und jetzt erzählen sie von Jesus:
von seinem Leben und Sterben,
von seiner Auferweckung ins ewige Leben.
Sie erzählen von einem Leben in Fülle und Vollmacht.
Wer der biblischen Pfingstgeschichte folgt, der merkt:
Da bricht sich der Glaube Bahn.
Wo Erstarrung war kommt etwas in Bewegung.
Wo Angst war ist plötzlich Mut.
Die Hoffnung bekommt Luft und Worte.
Das alles geschieht, weil Gottes Geisteskraft wirkt.
Es klingt nach Glück und heiligem Moment.

Das hat man ja nicht alle Tage.
Damals nicht und heute nicht.
Schon gar nicht in Corona-Zeiten,
wo wir viel zu lange in unseren Gehäusen waren
und vielen die Seelen trüb geworden sind.
Der wachsame Blick auf Zahlen und Infektion,
die Achtsamkeit in der Begegnung -
all das ist noch da, auch wenn das Atmen freier wird.

Ganz plötzlich kam es. So wird erzählt:
Das Sausen und Brausen.
Gottes Geisteskraft ist unterwegs.
Aber das erschließt sich nicht allen gleich,
so erzählt die Bibel.
Sie sind begeistert, sagt einen.
Die reden krauses Zeug, sagen die anderen.
Sie sprechen meine Sprache, sagen die einen.
Ich verstehe nur Bahnhof, sagen die anderen.
Wir sind überwältigt von dem Großen,
das hier passiert, sagen die einen.
Die sind besoffen, sagen die anderen.
Sie erleben alle das Gleiche.
Aber sie empfinden es ganz verschieden.
Müsste Gottes Geistes nicht eindeutiger sein?
Also so, dass es alle Welt versteht.
Hier ist Gott am Werk?

Manchmal frage ich mich das mit Blick auf unsere Welt,
in der vieles so roh und unfassbar und geistlos scheint.
Wenn es ganz arg ist und ich denke:
Wieso muss es das geben,
das Hassreden und Parolenbrüllen, Fahnenverbrennen und Bombenwerfen?
Könnte, ja müsste Gottes Geist da nicht für mehr
Eintracht, Freundlichkeit und Friedfertigkeit sorgen?
Ein wenig mehr Pfingsten für den Lebensraum Erde?

Aber so ist, so wirkt Gottes Geisteskraft nicht.
So ist und wirkt die Liebe nicht.
Gott riskiert es, nicht verstanden zu werden.
Liebe entsteht nur durch Liebe, nie mit Zwang.
Gottes Liebe riskiert es, abgewiesen zu werden.
Oder für verrückt gehalten zu werden.

Ganz plötzlich kam es. So wird erzählt:
Das Sausen und Brausen.
Gottes Geisteskraft ist unterwegs.
Die keine Grenzen kennt.
Die sich durch alle Kulturen und Sprachen bewegt,
um Menschen zusammenzubringen.

Diese Hoffnung ist mit Pfingsten in der Welt:
Gottes Geist lässt die nicht allein,
die um ihn bitten.
Er festigt Menschen,
die sich umeinander bemühen.
Wer liebt, darf Gottes an seiner Seite wissen.
Amen.


 

"Der Himmel in uns" Gedanken zwischen Himmelfahrt & Pfingsten

 

Der Papa ist tot, aber das kleine Mädchen denkt noch viel an ihn.
Und sie weiß immer noch genau, wann er Geburtstag hat.
Darum schreibt sie ihrem Vater einen Brief, in Kinderschrift.
„Happy Birthday“, schreibt das Mädchen auf einen Zettel. Und:
„Ich wünsche dir alles Gutes; du sollst schön feiern da oben, wo du jetzt bist.“
Damit der Brief auch „oben“ ankommt, hängt das Mädchen ihn
an einen Luftballon. Der fliegt davon und ist irgendwann nicht mehr zu sehen.
Aber weil das Mädchen noch etwas für sie Wichtiges auf den Brief geschrieben hat,
ist diese Geschichte noch nicht zu Ende.
Sie hat nämlich auch geschrieben: „Ich habe selbst bald Geburtstag.“
Sie erinnert ihren Papa daran, was hier, auf Erden so los ist.

Ein paar Tage kommt per Post eine Karte ins Haus. Auf der steht:
„Feiere schön an deinem Geburtstag. Ich denke an dich.“
Die Mutter des Mädchens steht vor einem Rätsel.
Jemand muss den Luftballon gefunden und geantwortet haben.
Jemand wollte dem Kind eine Freude machen und schreibt „aus dem Himmel“.
Das Mädchen ist glücklich. Der Himmel ist oben und Papa in ihrem Herzen.

Es gibt diese kleinen Wunder im Alltag.
Manchmal sind sie etwas seltsam, oft aber einfach nur herrlich.
Das Mädchen hofft, dass ihr verstorbener Vater nicht ganz weit weg ist;
dass er sie immer noch hört und sieht. Das ist ihr wichtig.
Sein Geburtstag soll nicht vergessen sein und ihrer auch nicht.
Wer weiß schließlich, ob man dort oben, im Himmel an so etwas denken wird.
Aber das tut man. Darum bekommt das Mädchen Antwort,
von wem auch immer.

Das kleine Wunder im Alltag hat einen wahren Kern:
Der Himmel ist nicht nur oben.
Der Himmel ist auch hier unten, zwischen uns, in unseren Herzen.
Bei diesem Mädchen und auch bei einem Fremden, der ihr antwortet.
Der Himmel ist ein altes und schönes Bild für die Nähe Gottes,
in der wir Menschen niemals verloren gehen.
Wir wissen nicht, wo unsere Toten sind. Wir hoffen aber, dass sie uns
nahe bleiben, weil wir in Gottes Liebe verbunden bleiben.


 

"Glaubst du an die Allmacht Gottes?" Predigtgedanken zum Sonntag Exaudi

 

Eines Tages bekommt ein isländischer Pfarrer
Besuch von seinem Bischof. Diesem wurde zuge-
tragen, dass der Pfarrer nicht recht bei Sinnen sei.
Da will der Bischof nach dem Rechten sehen.
Schnell entspinnt sich ein Gespräch der beiden,
von dem der isländische Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness erzählt:
 
Glaubst du an die Allmacht Gottes?,
fragt der Bischof den Pfarrer. Dieser lacht und sagt:
Sieh mal dort, Bischof, eine Schneeammer.
Ein kleines Vögelchen. Es wiegt nicht mehr
als eine Briefmarke. Wir haben viel Wind, Bischof.
Merkst du das? Das Vögelchen aber wird
nicht weggeweht. Es hält sein Köpfchen
dem Unwetter entgegen, den Schnabel zur Erde,
legt die Flügel fest an die Seiten.
Der Sturm kann den Vogel nicht packen. Er steht ganz fest.
Er ist die Allmacht. Der Sturm muss sich teilen.
 
Ja, sagt der Bischof, das sehe ich.
Aber woher weißt du, dass der Vogel
die Allmacht ist und nicht der Sturm?
Ach, sagt der Pfarrer, das ist mir ganz klar:
Der Sturm ist die stärkste Kraft auf der Insel,
aber die Schneeammer ist der schwächste
von allen Einfällen Gottes, gegen den doch kein Sturm ankommt.
Dieses Schwächste ist allmächtig.

Das ist ein geniales und zugleich anrührend-tiefes Bild
als Antwort auf die Frage, wie sich Gott und Macht zusammendenken lassen:
Allmacht muss nicht Kraft und Gewalt bedeuten.
Nein, Allmacht ist das Gegenteil!
Wer auf Macht verzichtet, hat nichts zu verlieren.
Wer nichts will, sieht nur Geschenke.
Wer freiwillig ohnmächtig ist, kann sehr stark werden.
Was ich immer so denke, muss ich mal auf den Kopf stellen,
die Perspektive wechseln und fragen:
Warum verzichtet Gott oft auf Gewalt und Kraft?
Warum könnte Gott, will aber oft nicht?
Weil Allmacht seine größte Schwäche ist.
Weil das Schwächste gewinnen muss: die Liebe!
Mit Blick auf unsere Welt, die ja immer irgendwo am eigenen Abgrund taumelt -
die Bilder und Nachrichten aus Israel und Gaza sind so erschreckend und entsetzlich -
mit Blick auf diese Welt wissen wir:
Dass Gewalt gewinnt, ist keine Kunst.
Dass Liebe gewinnt schon.
Draufhauen und zurückschlagen:
das zerreißt die Welt in Stücke.
Lieben aber führt sie zusammen gerade dort,
wo sie sturmfest und erdverwachsen dem Rohen
und Lauten beharrlich zu trotzen weiß.

Glaubst du an die Allmacht Gottes?
So lässt Halldór Laxness den Bischof
seinen Pfarrer fragen. In einer Predigt der
Theologin Dorothee Sölle lese ich eine Gegenfrage:
Warum fällt es uns Menschen so schwer,
Gott nicht als Herrschaft, sondern als Leben,
als Freude und Schmerz zu denken?

Und dann beschreibt sie, wie sie selbst gelernt habe,
Gott neu und anders denken zu können,
in einem kurzen Satz: God happens!
Das sei für sie die wichtigste Vorstellung von und über Gott, so Sölle:
God happens; Gott geschieht,
Gott ereignet sich in Beziehung zur Welt.

Wer dem Evangelisten Johannes in seine Erzählung
von Leben, Sterben und Erhöhtwerden Jesu folgt,
dem begegnet hier Wort um Wort ein Gott,
der auf nichts mehr aus ist als auf Beziehung zur Welt,
der sich in Christus tief zu den Menschen beugt,
in unser Leben, in Freunde und Schmerz hinein,
um uns Anteil an seiner Lebenskraft zu geben.

Die Erzählungen von der Hochzeit zu Kana, von der Heilung des Gelähmten
am Sabbat am Teich Bethesda, bis hin zur Auferweckung des Lazarus,
diese Geschichten haben eine ganz eigene Logik.
Immer schon schimmert bei Johannes durch,
dass dieser Jesus ein besonderer Typ ist.
Der Typ eines neuen Menschen,
dessen Energien auf himmlische Weise gespeist werden und der
diese Quelle aller Welt erschließen will.

Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!
Wer an mich glaubt, von dessen Leib
werden Ströme lebendigen Wassers fließen.

So sagt es Jesus im Predigttext des Sonntags.
Es ist der letzte Tag des jüdischen Laubhüttenfestes.
Der Priester schöpft dabei Wasser aus einer Quelle.
Unter Freudenjubel wird das Wasser zum Tempel hinaufgetragen
und dort in eine Schale gegossen.
Als Symbol der Gegenwart Gottes erinnert sie
das Volk Israel an die Quellen, aus denen allein
es bei Gott seine Lebenskraft schöpfen kann.

Und Jesus sagt: Ich bin diese Quelle, aus der ihr schöpfen könnt,
um mit Gott verbunden zu sein.
Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!
Wer an mich glaubt, von dessen Leib
werden Ströme lebendigen Wassers fließen.

Ich höre und verstehe das so:
Wer an diesen Christus glaubt, der strahlt etwas aus.
Der schöpft bei ihm für den Umgang mit dieser Welt
aus einer lebendigen, überströmenden Quelle.
Es gibt Liebe, die so unglaublich ist,
dass sie uns den Atem nimmt.
Es gibt Fürsorge, die so zugewandt ist,
dass Menschen sich fragen: Wie ist das möglich?

Es ist möglich, sagt Jesus.
Weil Gott selbst Liebe ist in dieser Welt,
die oft so garstig, lieblos und verkommen wirkt.
Es ist möglich, weil Gott in alldem geschieht:
in der ungebrochenen Freundlichkeit,
mit der wir anderen begegnen;
in der Fürsorge, die wir für andere zeigen;
in jeder Zuwendung, die nicht darauf aus ist,
alles sofort auf- und gegenzurechnen.

Ich kehre noch einmal an den Anfang zurück:
Glaubst du an die Allmacht Gottes?
So fragt der Bischof seinen Pfarrer.
Und der weiß längst, was auch wir glauben sollen:
Dass sich diese Allmacht allein in der Liebe findet,
die zerbrechlich ist und doch obsiegen soll.
Wie der kleine Vogel der Urgewalt des Sturmes trotzt.
Immer aufs Neue, wenn ein Sturm kommt.

Lass dir an meiner Gnade genügen,
denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!
Amen.


 

"Wie beten?" Predigtgedanken zum Sonntag Rogate

 

Rogate! Betet!
Nicht nur im Namen dieses Sonntags,
auch in seinen thematischen Mittelpunkt
steht die Ermutigung zu Gebet und Fürbitte.
Rogate! Betet!
Auch Jesus hat dazu immer wieder aufgerufen.
Aber: Wie ist Beten eigentlich?
Was geschieht da? Wie geht das?
Wie betest du eigentlich?

Wir haben uns diese Fragen gerade wieder
im Konfirmanden-Kurs hier an St. Magni gestellt.
Die zweiundzwanzig Jugendlichen waren dabei
zunächst zu einer kleinen Übung eingeladen.
Die braucht keine große Erfahrung mit dem Beten,
wohl aber ein wenig Phantasie. Die Übung geht so:
Auf der Internetseite unserer Gemeinde findet sich
eine Reihe von Bildern alltäglicher Gegenstände:
eine Taschenlampe, ein Ladekabel, Muscheln,
Schlüssel, ein Würfel, eine Pflaster-Box usw.
Zu diesen Bildern gibt es eine Frage:
Kannst du mit einem oder mehreren Bildern
beschreiben, wie Beten für dich ist?

Na klar, erst einmal stehen die Fragezeichen
in den Gesichtern: Wie soll das denn gehen?
Aber dann lösen sich die Ideen.
Und es ist beeindruckend, welche tollen Sätze
entstehen und erste Kreise ziehen.
Ein Vater schreibt dazu:
Selten haben wir solange und so ernst
über den Glauben gesprochen. Danke dafür!
Aber hören Sie selbst hinein in die Konfi-Gedanken.
Noch druckfrisch sozusagen und live gelesen:
Alina, Carolin und Mia, schön das ihr da seid !
Sagt mal: Wie ist Beten eigentlich?

Vielen Dank für eure Gedanken,
entstanden im Konfi-Kurs.
Sechs Sätze von einer langen Liste!
Und alle Sätze haben in ihrer Vielfalt mit dem zu tun,
was beim Beten zählt, meine ich:
Dass hier alles seinen Ort und Platz findet -
was Sinn macht in unserem Leben
und auch was darin falsch und schwierig ist.
Gebete können vom Glück und der Liebe sprechen,
aber auch von Angst und Zweifeln, von Wut und
der Erfahrung, mit dem Kopf vor Wände zu laufen.
Alles, was das Leben ausmacht,
darf, soll, muss ins Gespräch mit Gott gehören,
der kein stummer Gigant weit über uns ist,
sondern von allem Anfang an ein Gott im Gespräch.

Ich schlage von diesen Gedanken einen Bogen
hinüber zu dem, was gerade eben von Jesus
über das Beten zu hören war. Danke, Ute, dafür!
Der erinnert uns zunächst ans Vaterunser
als Grundgebet für alle Christenmenschen,
dessen Sätze alles zusammenhalten:
Gottes Reich und unsere Welt,
seinen Namen über unserem Leben,
seinen Willen und unser Tun.
Und dann antwortet Jesus auf die Bitte
seiner Freunde, ihnen doch näher zu erklären,
wie das mit dem Beten sei, mit einem starken Bild:

Beten ist wie die Tür, vor der du stehst,
an die du immer anklopfen kannst,
egal wie spät es ist und was du auf dem Herzen hast.

Betet, sagt Jesus, wie ein Mensch,
der weiß, dass er Gott zum Nachbarn hat.
Der wird nicht zögern, sondern losgehen.
Und fest damit rechnen, dass sich der Nachbar
wie ein echter Freund verhalten wird:
dass er das Klopfen hört und die Tür auftut,
dass er ein offenes Ohr und weiters Herz hat,
Liebe und Brot gibt mehr als genug,
damit es auch für andere reichen wird.

Ihr habt Gott zum Nachbarn, sagt Jesus.
Darum sollt ihr auch für die bitten,
die erst ankommen, wenn es fast zu spät ist,
wenn schon alle Türen verschlossen sind.
Betet für die, deren Leben mühsam
und voller Hindernisse ist.
Für die Müden und Erschöpften.
Für die Verzweifelten.
Zögert keinen Moment, für sie loszuziehen.
Klopft an bei Gott und klagt ihr Leid.
Fragt Gott, wie es weitergehen soll,
denn sie sind zu müde und zu erschöpft dazu.
Ihr könnt Gott für sie bitten.
Von wem sollen sie es sonst erwarten.

Beim Theologen und Dichter Huub Osterhuis
lese ich diese Gedanken so:
Lerne fragen, flehen, drängen, an Türen klopfen.
Lerne beten. Verlange. Sei nicht matt, gelassen, vage.
Sei heftig, bewegt, wachsam, anrührbar.
Verlange leidenschaftlich nach der Wirkung
des Heiligen Geistes: dass der Name Gottes,
der Befreiung und der Liebe bedeutet,
Wirklichkeit werde in Menschen.
Und lebe so, dass jemand nachts
an deiner Tür anzuklopfen wagt.
Mir gefällt dieser Gedanke: Dass das Beten
den Blick vom für Mich und mit Mir weghebt,
das unser Leben im Alltäglichen oft so bestimmt.
Beten macht uns empfindsam für die Welt.
Und es erwartet von Gott mehr als nur die bittere
Erfahrung, die uns die Welt täglich lehrt.
Wer betet, hält die Hoffnung in der Welt wach,
dass sich Türen auftun können, wo wir niemals
daran dachten, dass es bei Gott immer Wege
und Möglichkeiten geben kann.

So geht das mit dem Beten, sagt Jesus:
Bittet, so wird euch gegeben;
Suchet, so werdet ihr finden;
Klopft an, so wird euch aufgetan.
Die einfachen Bilder sind oft die besten.
Auch beim Glauben ist das so.
Darum nun noch einmal euch Konfis das Wort:
Alina, Carolin und Mia, wie ist das mit
dem Beten eigentlich?


Das Evangelium zum Sonntag Rogate lesen Sie hier, die Konfi-Sätze zum Thema "Beten ist wie" hier.


 

"Was mich die Welt angeht"

 

Tom ist neun Jahre alt. Noch ein kleiner Kerl, aber schon mit einer großartigen Idee. Tom wohnt mit seiner Familie in einem Dorf bei Koblenz in Rheinland-Pfalz. Dort ärgerte ihn, dass viele Menschen Müll gedankenlos auf die Straße oder in eine der Hecken warfen. Auch an der Haltestelle, von der sein Schulbus fährt, sah es ziemlich unordentlich aus. Das alles finde er so „respektlos“, erzählt Tom im Gespräch mit der Reporterin vom Regionalfernsehen. Darum habe er beschlossen, dem auf seine Weise ein Ende zu machen.

Seit einigen Wochen zieht Tom nun samstags mit einem Bollerwagen durch die Straßen des Dorfes und sammelt Müll auf. Immer etwa drei Stunden lang. Seine Eltern haben ihn ausdrücklich dazu ermutigt und unterstützen ihn. Ein paar Kinder aus seiner Klasse hätte darüber gelacht, erzählt Tom. Jetzt aber gehen noch zwei Freunde mit ihm. Drei sammeln mehr Müll als einer. Und weil das oft kein angenehmer Abfall ist, haben die Jungen dicke Handschuhe an und Zangen zum Aufsammeln. Wenn sie fertig sind, ist ihre Welt etwas schöner geworden.

Es gibt in dieser kleinen Geschichte einen großen Gedanken, finde ich. Der lautet: Die Welt soll uns etwas angehen! Tom und seinen Freunden ist sie nicht egal! Sie wollen ihre Umwelt sauberer machen und schöner erhalten. Die Jungen denken nicht: „Was geht mich das an; sollen sich doch andere darum kümmern.“ Sie folgen einer anderen Logik, die sagt: Da, wo wir miteinander, leben, soll es gut sein. Und wenn es nicht gut ist, sollen wir es besser machen. Mit dem, wozu wir in der Lage sind; auch mit kleinen Schritten und begrenzten Kräften.

Das ist ein Gedanke, der für meinen Glauben wesentlich ist: Die Welt kann mir nicht gleichgültig sein. Es darf mir nicht egal sein, was in unseren Häusern, auf den Straßen und in unserem Zusammenleben passiert. Und wenn etwas nicht gut ist, kann ich es vielleicht gut machen mit Gottes Hilfe.

 „Helft einander, Lasten zu tragen. So erfüllt ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat.“ Das schreibt der Apostel Paulus dazu im Galaterbrief. Wer sich um andere kümmert, verkümmert auch selber nicht, sondern bleibt lebendig! Wer seine Gleichgültigkeit aufgibt um der Lasten anderer willen, macht sich und die Welt ein wenig heller und auch heiler.

Und wer Tom und seinen Freunden beim Bollerwagenziehen und Müllsammeln über die Schulter schaut, der versteht: Dieser Grundsatz Christi erfüllt sich dort, wo uns Menschen oder Gottes Schöpfung nicht gleichgültig sind.


 

"Aus der Falle zur Freude"

Manchmal ist es „wie verhext“: Egal, wohin man einen Schritt tut, irgendeine Falle schnappt immer zu! Man ahnt nichts Böses und schon bekommt man von einem Mitmenschen etwas an den Kopf geworfen. Wie ungerecht ist das denn? An manchen Tagen scheint sich alles gegen einen zu verschwören!

Aber es geht auch anders herum: Du äußerst gedankenlos Kritik am Kollegen. Du vergisst einen wichtigen Geburtstag. Du triffst den falschen Ton im Gespräch mit deiner Frau, den Eltern und Kindern. Jede Menge Fallen, die sich im Laufe eines Tages auftun können!

Ein Sprichwort sagt: „In Fettnäpfchen treten, ist wie Fahrradfahren: Man verlernt es einfach nie!“ So sehr wir uns auch bemühen, in die eine oder andere Falle tappen wir. Wer das akzeptiert, der hat fürs Leben gelernt. Aber wenn man der Spur dieser Fallen etwas grundsätzlicher folgt über einzelne Situationen hinaus, die im Rückblick oft belächelt werden können, dann kann man schon nachdenklich werden:

Warum ist das Leben denn so oft von dieser durchwachsenen Qualität, die sich anfühlt, als würde man in eine Falle tappen? Warum gibt es nichts, was einfach nur gut und positiv ist, und zwar für immer? Wer das Leben mit seinen Fallstricken kennt, der kennt auch den Wunsch, dass dieses Leben sich wandeln könnte: Von den alten Mustern in neues Verhalten. Vom Frust zur Lust. Von der Falle zur Freude.

Über dieser Woche nach dem Sonntag Jubilate (zu Deutsch: Jubelt! Freuet euch!) steht ein Bibelwort aus dem zweiten Korintherbrief des Apostels Paulus. Er schreibt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Ich verstehe diesen Gedanken so: Wer sich mit Christus verbunden weiß, der aus Gottes Liebe den Stricken des Todes entronnen ist, der wird selbst auf neue Wege geführt. Dem kann sich eine wirklich andere Sicht der Dinge auftun: Ganz gleich, wie viele Fallen es im Leben geben mag, mitten darin gibt es schon eine anderes Leben, das mit diesem Christus zu tun hat. Wer zu ihm gehört, der wird verwandelt.

Aus dem Alltag mit seinen Fallstricken und Fettnäpfchen heraus auf Christus zu schauen, macht den Blick weit für dieses neue Leben. Und jede Falle, in die man dennoch tappt, wird zur Erinnerung daran, dass Gottes neue Welt keine Fallen mehr hat. Ganz gleich, wohin man dann tritt, das Leben steht im Letzten auf gutem und sicherem Grund.

Gebet
Oft wirkt es schwach: das neue Leben, unsere Hoffnungskraft, dein Reich. Gott, schenke uns Zuversicht, gib uns dein Wort, lass es wirken in unserer Mitte, hier und an allen Orten, jetzt und ewig. Amen.


 

Acht Jahre und Lust auf Eis

 

Acht Jahre alt und Lust auf Eis, das passt. Er sitzt aber im Rollstuhl, kann Arme und Beine nicht bewegen und nicht sprechen. Sein Kopf fällt immer leicht nach rechts. Muskeln nicht auch keine da. Aber große Lust auf Eis im ersten Frühlingssonnenschein.

Darum sitzen die Eltern mit dem Jungen jetzt im Park. Auch die Oma ist dabei oder eine Freundin. Eine muntere Runde ist das. Und der Junge, vielleicht acht Jahre alt, ist in ihrer Mitte.

Acht Jahre alt und Lust auf Eis, das passt. Und das bekommt er auch, wie alle anderen. Jeder hat einen Becher aus der Eisdiele in der Hand und löffelt. Mama und Oma reichen dem Jungen Löffel mit Eis, manchmal auch der Papa. Der Junge gibt Laute von sich. Es klingt vergnügt. Die Erwachsenen sind im Gespräch miteinander. Manchmal schauen sie zum Jungen im Rollstuhl. Ein neuer Löffel mit Eis. Und dann auch eine zweite Hand, die mit einem Läppchen vorsichtig über den Mund des Jungen wischt.

Zwischen den Löffeln mit Eis sorgt jemand auch für die Atemmaske des Jungen. Hinten am Rollstuhl ist eine Maschine angebracht, die beim Atmen hilft. Die Maske kommt kurz runter von Mund und Nase und ein neuer Löffel Eis. Dann muss die Maske wieder aufgesetzt werden. Eingespielt wirkt das. Alle legen Hand an; alle wissen, was zu tun ist. Sie sind da miteinander und füreinander. Einfach so.

Acht Jahre alt und Lust auf Eis, das passt. Für einen allein wäre die Last zu groß mit dem Jungen und Eis und Rollstuhl und Atemmaschine. Aber miteinander geht es. Wenn man nicht viel sagen oder fragen muss, wenn alle wissen, was zu tun ist, und Hand anlegen. Sicher, die Last bleibt schwer. Jeden Morgen und Abend. Und jede Nacht. Aber niemand soll sie alleine tragen.

Oft verstehen wir das Leben nicht mit seinen Erfahrungen von Krankheit, Last und Leid, die so willkürlich verteilt erscheinen. Eigentlich kann man es nie verstehen! Aber das, was sich uns nicht erklärt, können wir gemeinsam tragen. Herz und Hand anlegen, wenn jemand Hilfe braucht. Oder Lust hat auf ein Eis. Dann sollen wir da sein. Einfach so.


 

"Ich habe den Herrn gesehen!" Predigtgedanken zum Ostermontag

 

"Ich habe den Herrn gesehen."
Einen Satz, fünf Worte nur braucht Maria, um ihre
Begegnung mit dem Auferstandenen zu beschreiben.
Sie hat gesehen, was eigentlich unvorstellbar ist.
Denn tot ist tot und kehrt nicht wieder zurück!
In dieser Tonlage jedenfalls beginnt die Ostererzählung des Evangelisten Johannes,die wir gerade gehört haben.

Die Torturen des Karfreitags sind vorüber,
der Leichnam des Freundes ist ins Grab gelegt.
Jetzt beginnt der Weg in die Trauer hinein.
So kehrt Maria in der Frühe des dritten Tages zurück
an den Ort des Todes, ans Grab ihrer Hoffnung.
Aber der Stein ist fort und das Grab ist leer.
Nicht mal den Toten haben sie ihr gelassen:
"Sie haben meinen Herrn weggenommen,
und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben."
Es fließen viele Tränen an diesem Ostermorgen.
Manchmal ist diese Welt einfach nur zum Heulen.

Die Bibel hält uns mit dieser traurigen Szene
am leeren Grab einen dunklen Spiegel hin:
Schaut hinein, sagt sie, und: Seht es euch an!
Was passiert denn gerade mit uns angesichts
der verwirrenden Ratlosigkeit im Umgang
mit den steigenden Infektionszahlen?
Wie steht es um das Vertrauen in unsere
Gesellschaft, in unseren Zusammenhalt?
Wie soll man Menschen trösten, die ihre Existenzen,
ihre Träume, ihr Lieben begraben müssen?

Manchmal ist diese Welt einfach nur zum Heulen.
Es fließen viele Tränen an diesem Ostermorgen.
Die trauernde Maria mag für uns alle mitweinen:
über dieses ausgebremste Leben,
das so sehr belastet in allen Generationen:
die Hochbetagten, die sagen, die Einsamkeit
sei schlimmer als die Angst vor dem Virus;
die Familien im zehrenden Balanceakt
zwischen Beruf und Distanzlernen zuhause;
die Kinder, deren Kitas und Grundschulen
mal öffnen und dann wieder schließen müssen,
als könnte man soziales Lernen an- und ausschalten;
die Jugendlichen, die sich nicht entfalten können,
weil ihr Leben die Stopptaste gedrückt hält.
Manchmal ist diese Welt einfach nur zum Heulen.
Dann geht es nicht schnell von Karfreitag zu Ostern.
Damals nicht und heute nicht.
Es ist schwer, den tiefen Widerspruch auszuhalten,
dass der Stachel des Todes nicht mehr schmerzen soll,
es aber mit Maria so viel zu betrauern gibt.
Vieles, was uns derzeit nahekommt, unter die Haut geht,
scheint mit Ostern wenig zu tun zu haben.
Oder gerade doch?

"Sie haben meinen Herrn weggenommen,
und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Und als sie das sagte, wandte sie sich um
und sieht Jesus stehen und weiß nicht,
dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Maria!"

Jetzt erst wird Ostern!
Als Maria die vertraute Stimme hört,
als der, den sie kennt, ihren Namen nennt:
Maria, was weinst du? Wen suchst du? Ich bin hier!
Die Welt ist in diesem Moment nicht weniger
erschreckend, aber Maria hört und begreift:
Was immer in diesem Leben geschehen mag
an Schrecklichem, Verstörendem, an Unfassbarem:
Gott bleibt uns Menschen darin nah und verbunden.
In Christus lebendig und gegenwärtig.

Ostern ist das ganz große Trotzdem!
So beschreibt die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs
die befreiende Botschaft des Ostermorgens,
von dem Maria später sagen wird:
"Ich habe den Herrn gesehen!"

Und wer mit ihr darauf vertraut, dass das
Unmögliche zu Gottes Möglichkeiten gehört,
der gerät in den Machtbereich der Liebe Gottes.
Ist weiterhin sterblich - ja!
Und hat zugleich teil an der Kraft der Auferstehung.
Der darf die Welt zum Heulen finden.
Und wagt es trotzdem dazubleiben,
sei es auch schmerzhaft, schrecklich,
unendlich traurig, weil nur so das Neue wächst.

Ostern geschieht - jetzt und hier,
wenn wir uns aus Angst und Schweigen lösen,
wenn wir uns ins Leben rufen lassen
wenn wir Zweifel nicht einfach beiseite räumen,
wenn wir niemandem sagen "Wird schon wieder",
sondern "Ich bin bei dir und höre dich."

"Ich habe den Herrn gesehen."
Sagt Maria am ersten Ostermorgen.
Ihre Worte sind auch uns gesagt.
Christus ist auferstanden. Halleluja!

 

Gebet

Christus, Auferstandener,
hören und glauben wollen wir,
dass du lebst von Ewigkeit zu Ewigkeit.
So sind wir hier vor dir, und fragen dich:

Wann wird das Leben nicht mehr
von Abschied zu Abschied nach uns greifen?
Wann werden wir nicht mehr Fürbitte halten müssen
für die Sterbende, für die Kranken an Leib und Seele,
für alle, denen das Leben nur hoffnungslos
erscheint?

Wann, Christus, werden wir vor dir
nicht mehr von Opfern sprechen müssen?
Von den Toten dieser Pandemie und den
 tiefen Schäden der Lockdowns weltweit?
Von den Opfern von Krieg und Terror?
Von den Ermordeten in Myanmar, in Syrien?
Von Geschundenen und Verschleppten?
Von Vermissten und Ertrunkenen?

Wann, Christus, werden wir dich schauen?
Von Angesicht zu Angesicht,
die Sterblichen den Auferstandenen,
die Zweifelnden den Tröster,
die Fragenden den fraglosen Gott?

Du, Auferstandener, geh mit uns neu ins Leben:
Wo wir zweifeln, sei du uns unsere Hoffnung,
die alles übersteigt, was wir hoffen können.
Amen.


 

"Da fehlt etwas!" Predigtworte zum Karfreitag

 

Du, da fehlt etwas! sagt Fabius zu mir.
Eben noch hat der Fünfjährige mit anderen
Kindern aus der Kita auf dem Kirchplatz gespielt.
Jetzt steht er mit mir vor dem Schaukasten
an der Kirche. Und zeigt auf das Plakat darin.
Es weist auf die Kreuzweg-Bilder des Künstlers
Rainer Mordmüller hin, die uns hier in St. Magni
durch diese Passionszeit begleiten:
vierzehn Bilder vom Leidensweg Jesu.

Du, da fehlt etwas! Fabius hat ein Detail entdeckt,
das ich bislang glatt übersehen hatte:
Jesus hängt am Kreuz, aber das Holz ist nicht da!
Das ist mit Kinderaugen gut beobachtet:
Im zwölften Bild des Kreuzweg-Zyklus fehlt
in der Tat der Querbalken des Kreuzes.
Und das mit voller Künstlerabsicht,
denn, so schreibt Rainer Mordmüller selbst,
zu seinen Kreuzwegbildern:
"Das Karge, das Angedeutete, das Reduzierte
scheint mir für diesen Marterweg der richtige
Ausdruck zu sein. Es ist die Anregung
für den Betrachter des Kreuzweges,
das Geschehen zu deuten, immer wieder neu."

Recht hast du, Fabius: Da fehlt etwas -
und ist doch für das innere Auge erkennbar.
Das macht dieses Kreuzwegbild so reizvoll.
Weil Jesus nicht der erste und einzige war,
der diesen grausamen Foltertod sterben musste.
Weil sein Kreuz durch alle Zeiten hindurch
mahnendes Glaubenszeichen geworden ist,
Symbol der Erinnerung an alle,
die in dieser Welt aufs Kreuz gelegt werden,
die unter Lebenslasten zu Boden gehen,
die wie gebunden sind in Sorgen und Ängsten.
Schaut hin und seht die Kreuze, die Menschen
auch heute zu tragen haben. Sie sind da!
Es gibt keinen Ort in der Welt,
auf den der Schatten des Kreuzes nicht fiele,
schreibt der Theologe Fulbert Steffensky.
Etwas von dem, was im Schatten des Kreuzes
zu wachsen beginnt, fällt also auch auf uns.
Es will uns sensibel, ja dünnhäutig sein lassen
für die schmerzhaften Seiten des Lebens,
für die Spannung zwischen Tod und Leben,
für die stärkere Kraft der Liebe,
die uns Menschen von Gott zu Teil wird.

Denn: Gott war in Christus, der am Kreuz stirbt.
So beschreibt der Apostel Paulus seine Sicht
auf das Geschehen dieses Karfreitags.
Das Kreuz Christi erzählt für Paulus davon,
wie wundersam die Wege Gottes zu uns sind,
wie sie bis in die äußerte Tiefe gehen;
davon auch, wie unbedingt diesem Gott
daran gelegen ist, dort von uns gefunden zu werden,
wo das Leben hart geprüft wird;
wo alle Hoffnung wie begraben scheint;
wo die ersehnten Wunder ausbleiben.
Überall dort ist Gott zu finden.
Gerade dort ist Gott zu finden:
In den Krankenhäusern und Pflegeheimen.
Bei den Einsamen und Bedrückten.
Bei denen, die über ihre Zukunftsängste
krank geworden sind.

Für mich entfaltet die Geschichte vom Leiden Jesu,
die am Karfreitag ihren traurigen Höhepunkt findet,
in dieser zweiten Pandemie-Passionszeit so etwas,
wie das Bild der Stunde:
Wir haben im vergangenen Jahr einen Begriff
von unausweichlichem Leiden bekommen.
Wir erleben miteinander ganz nah,
wie das Leid in das Leben von Menschen einzieht:
in Familien und Freundeskreise,
in ganze Gesellschaften und Länder weltweit.
Wir erfahren, wie unerbittlich das Leid in Gestalt
eines kleinen Virus Wirklichkeit wird,
wie es uns als einzelne und Gemeinschaft
viel abverlangt an Vorsicht und Geduld,
an Verzicht und Solidarität.
Folgt man den biblischen Passionserzählungen,
so hört man vom großen Schmerz der Menschen
unterm Kreuz, aber auch davon,
dass dieses Geschehen ihre Beziehungen neuordnet,
Menschen in Liebe und Hingabe verbindet.
Und wer diesen Erzählungen weiter folgt -
vom Kreuz ins Grab zum Morgen des dritten Tages -,
der wird davon hören, wie aus dem Schatten
des Kreuzes neues Leben wächst und
die Liebe zurückkehrt und den Sieg behält.

Weißt du, sagt Fabius: Jesus stirbt am Kreuz.
Vor Ostern ist das. Aber: Jesus bleibt nicht tot.
Weil Gott das nicht will!
Dann läuft er los zu den Freunden.
Sie warten schon auf ihn. Das Spiel soll weitergehen.

Dass der Tod nicht das letzte Wort über uns behält:
diese Hoffnung erwächst aus dem Kreuz.
Sie nährt sich aus der Liebe Gottes zum Leben,
in dem das Leiden ernstgenommen und dennoch
im Licht der Auferweckung Jesu neu gedeutet wird:
"Also hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn gab,
damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben."
Amen.


 

"Kraft - mehr als man hat." Gedanken in der Karwoche

 

Das Leben - ein Traum. Fünf Jahre lang, jeden Tag. Das Kennenlernen,der Beginn der Liebe. Dann die Hochzeit. Keine Sorgen ums Geld.
 Zwei prachtvolle Kinder, schöne Urlaube, der Hausbau. Alles wie aus dem Bilderbuch.

Nach fünf Jahren dann das Unheil: Ein Hirnschlag. Er fällt ins Koma, sie muss alles regeln. Das lange Krankenhaus, das Erwachen, die Reha, den Umbau des Hauses, die Betreuung der Kinder. Fast ein Jahr dauert das. Sie wächst über sich hinaus, sagt sie heute dazu. Jeder Tag ein kleiner Kampf mit Behörden, Firmen, der Schule. Immer wieder Erklären und Bitten, um Verständnis Werben. Das kostet Kraft, sagt sie. Mehr als man hat.
 
Ich hatte Kraft, sagt sie. Nur nicht von mir, das weiß ich. Solche Kräfte besitzt man nicht aus sich selbst. Wie oft kamen mir einfach die Tränen. Ich saß da und konnte nicht mehr. Schimpfte auf Gott und mit Gott, weinte vor mich hin. Jetzt ist es so weit, dachte ich dann: Jetzt kannst du nicht mehr.

Sie macht eine lange Pause, dann sagt sie: Weißt du, irgendwann bin ich wieder aufgestanden, weil etwas geregelt werden musste. Brote oder Schulranzen oder Abholen vom Arzt. Irgendwas war immer. Und ich stand wieder auf den Beinen und hatte Kraft. Manchmal nur kleine, aber ich hatte sie. Nicht von mir. Solche Kräfte macht man nicht, besitzt wohl niemand. Die bekommt man. Sie sind ein Zeichen, glaube ich. Gott lässt dich mit dir nicht allein, dachte ich. Es war so. Und blieb so.

Erst nach einem Jahr ging nichts mehr. Eigentlich war alles geregelt oder auf dem Weg, erzählt sie. Nur ich konnte nicht mehr, war nur noch erschöpft. Da halfen Nachbarn und Familie. Sie sorgten dafür, dass ich zur Kur konnte. Viele Wochen. Weg von allem. Noch ein Zeichen: Gott will mich. Aber erholt! Ja, sagt sie, so war das. Und so geht es weiter in kleinen Schritten durchs Leben. Mit Gottes Hilfe.

Gebet

"Befiehl dem Herrn, deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen." (Psalm 37)

Du, Gott, kennst unsere Wege,
und du weißt, was wir mit uns tragen.
Manchmal ist es wenig und das Leben ist leicht:
ein Lachen auf den Lippen, Gelassenheit im Herzen.
Dann fahren wir fröhlich durch unsere Zeit,
mutig und in der Gewissheit, das Ziel zu erreichen.

Du, Gott, kennst unsere Wege,
und weißt, was wir mit uns tragen:
Das Schicksal legt uns Lasten auf,
Enttäuschungen und Schmerz,
Wunden, die nicht heilen wollen.
Mit diesen Lasten werden auch gerade Wege steil.
Dann lass uns den Mut zum Leben nicht verlieren,
sondern auf dich hoffen:
Du wirst es wohl machen mit uns!

Amen.


 

"Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn"

 

Aus dem Evangelium des Palmsonntags:

Kurz vor Jerusalem kamen sie zu der Ortschaft Betfage am Ölberg.
Dort schickte Jesus zwei Jünger fort mit dem Auftrag:
»Geht in das Dorf da drüben! Gleich am Ortseingang findet ihr eine Eselin und ihr Junges angebunden.
Bindet beide los und bringt sie zu mir! Und wenn jemand etwas sagt, dann antwortet:
›Der Herr braucht sie.‹ Dann wird man sie euch sofort geben.« D
amit sollte in Erfüllung gehen, was der Prophet angekündigt hatte:
»Sagt der Zionsstadt: Dein König kommt jetzt zu dir! Er verzichtet auf Gewalt.
Er reitet auf einem Esel und auf einem Eselsfohlen, dem Jungen eines Lasttiers.«
Die beiden Jünger gingen hin und taten, was Jesus ihnen befohlen hatte.
Sie brachten die Eselin und ihr Junges und legten ihre Kleider darüber,
und Jesus setzte sich darauf.
Viele Menschen aus der Menge breiteten ihre Kleider als Teppich auf die Straße,
andere rissen Zweige von den Bäumen und legten sie auf den Weg.
Die Menschenmenge, die Jesus vorauslief und ihm folgte, rief immer wieder:
»Gepriesen sei der Sohn Davids! Heil dem, der im Auftrag des Herrn kommt! Gepriesen sei Gott in der Höhe!«
Als Jesus in Jerusalem einzog, geriet alles in große Aufregung.
»Wer ist dieser Mann?«, fragten die Leute in der Stadt. Die Menge, die Jesus begleitete, rief:
»Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa!

Gebet

"Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!"

Wir halten dir unsere Herzen hin, Jesus.
Unsere Bitten sind auf dem Weg zu dir.
Sie sind alles, was wir haben.
So beten wir:
für die Kranken und Leidenden,
für die, denen keine Medizin helfen kann,
für die, die einsam sterben,
für die, die unter der Last dieser Tage zusammenbrechen.
Komm zu ihnen mit deiner Liebe und heile sie.
Höre uns.

So beten wir:
für die Menschen,
die in Krankenhäuser und Pflegeheimen arbeiten,
in Feuerwachen und Laboren,
in Kitas und Supermärkten.
Komm zu ihnen mit deiner Freundlichkeit und behüte sie.
Höre uns.

So beten wir:
für die Menschen,
die in der Sorge dieser Tage in Vergessenheit geraten,
die Flüchtlinge, die Einsamen unter uns.
Komm zu ihnen und rette sie.
Höre uns.

Wir halten dir unsere Herzen hin und danken dir
für den Glauben,
für alle Zeichen der Liebe und Verbundenheit,
für die freundlichen Worte, die uns erreichen
für die Musik, die uns berührt.

Wir halten dir unsere Herzen hin, Jesus.
Du gehst mit uns durch diese Zeit
Heute, in diesen Tagen der Passion,
und jeden neuen Tag.
Amen.


 

"Was den Mensch zum Menschen macht"

 

Was macht den Mensch zum Menschen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt eine aktuelle Studie der Universität Boston: Es ist das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen, die Gefühle andere zu erkennen und ihr Verhalten mit den eigenen zu vergleichen. Diese Fähigkeit, so die Hirnforscher aus Boston, sei Menschen eigen und entwickle sich etwa ab dem dritten oder vierten Lebensjahr.

Mensch bist du, weil du mit anderen empfinden kannst! Das klingt so kinderleicht und ist im Miteinander von Menschen oft so schwer: Da wird sehr viel von sich erzählt. Und es wird, oft eher rücksichtslos, der eigene Vorteil gesucht und betrieben. Jedenfalls kann man diesen Eindruck gewinnen.

Und dann erlebt man wiederum große Selbstlosigkeit: Menschen lassen Eigenes stehen und liegen, um anderen zu helfen. Menschen opfern Zeit und Geld, um andere zu unterstützen. Viele Zeitgenossen kümmern sich um andere in einer Weise, die höchste Bewunderung verdient. Und das gilt umso mehr in diesen Zeiten „unter Corona“, in denen alles Miteinander so sehr auf Abstand funktionieren muss.

Mensch bist du, weil du mit anderen empfinden kannst! Dieser Gedanke ist schon nahe dran an Karwoche und Osterfest, die vor uns liegen mit ihren Erzählungen von Verrat und Versöhnung, vom Leben, das sich selbst verschenkt, und der Liebe, die den Sieg behält, weil Gottes Sorge weiter reicht.

„Niemand liebt mehr als einer, der sein Leben für seine Freunde einsetzt!“ Das ist ein starker Jesussatz, nachzulesen im Johannesevangelium und dann mitzunehmen in diesen Abend und die noch junge Woche hinein.

Was ich an Zeit oder Mitgefühl für andere aufbringe, wird mich selber stärken. Nichts ist vergeblich, was ich für andere einsetze oder hingebe: kein Gedanke, keine Stunde, kein geopfertes Geld. Alles kommt auf andere Weise zu mir zurück.

„Niemand liebt mehr als einer, der sein Leben für seine Freunde einsetzt!“
Ich höre das so: Mensch, du verkümmerst, wo du dich nur um dich kümmerst. Dein Leben blüht auf, wo du empfindsam bist für andere!


 

"Gott ist nicht da. Aber Sie sind da!"

 

Noch dürfen die Kinos Corona-bedingt nicht öffnen. Darum gibt es heute Abend ein wenig Kino für die Köpfe. Ich erzähle eine Szene aus dem Film „Hilde“. Der kam im Jahr 2009 auf die Leinwand und handelt vom Leben der Schauspielerin und Sängerin Hildegard Knef, die im Jahr 2002 mit 76 Jahren verstorben ist.

Als Hilde, Jahrgang 1925, zwanzig Jahre alt ist, da zieht sie sich Männerkleider an. Sie hat Angst vor der Rache fremder Soldaten. Es gibt schlimme Gerüchte im Februar 1945. In den Wirren der letzten Kriegsmonate. Als Junge verkleidet gerät Hilde auf der Flucht aus Berlin in russische Gefangenschaft. Niemand entdeckt ihr Geheimnis. Dann aber erkrankt Hilde an Typhus und muss zum Lagerarzt. Der sieht streng aus und sagt: „Machen Sie Ihren Oberkörper frei!" Die Frau in Männerkleidern zögert. Ganz langsam zieht sie erst die Jacke aus, dann ihr Hemd, zögert beim letzten Kleidungsstück. „Nun machen Sie schon", sagt der Arzt. Da fasst Hilde sich ein Herz und zieht ruckartig ihr Unterhemd über den Kopf. Der Arzt sieht, erkennt und holt tief Luft. Dann sagt er: „Gott sei Ihnen gnädig, wenn das unsere Soldaten wissen!" Die junge Frau schaut dem Arzt fest in die Augen. Und dann sagt sie: „Gott ist nicht da. Aber Sie sind da!"

Kino für die Köpfe. Mit einer starken Szene. Und einem noch größeren Satz: „Gott ist nicht da. Aber Sie sind da!" Wenn Gott wie verborgen scheint, dann bleiben wir Menschen da - und können füreinander da sein. Weil wir Menschen zunächst und vor allem Ebenbilder Gottes sind. Ich finde in dieser kurzen Filmszene eine Antwort auf die Frage, was es heißt, Mensch zu sein.

Mensch sein heißt, lieben zu können, auch gnädig zu sein und verzeihen zu können. Du, Mensch, kannst einen anderen Menschen lieben, ihn aufrichten und trösten, ihn manchmal sogar retten. Und wir Menschen müssen dabei niemals warten, bis Gott eingreift. Wir können immer damit anfangen zu lieben. Darin vor allem liegt die Besonderheit, mit der wir von Gott geschaffen sind.

„Gott ist nicht da. Aber Sie sind da!" So sagt es die junge Hildegard Knef im Film. Der Lagerarzt muss kurz schlucken. Aber dann versteht er und behandelt die junge Frau und rettet ihr wohl das Leben. Im Augenblick der höchsten Not erkennt ein Mensch, dass er jetzt wie Gott ist - und gnädig zu sein hat. Er hätte auch anders gekonnt. Aber der Mensch ist ein Wunder - in alle Richtungen. Gut, wenn wir das niemals vergessen!


Mehr zum Film Hilde mit einem Klick hier.


 

"Zeiger auf dreiviertel Neun"

 

Wenige Wochen vor ihrem Tod schrieb
die Schriftstellerin Maxie Wander, damals unheilbar
an Krebs erkrankt, folgende Zeilen:
„Ach, die vielen Halbheiten und Schwächen,
mit denen wir uns plagen, die wir jedoch am Ende akzeptieren müssen,
wenn wir uns wirklich lieben!
Zeiger auf dreiviertel Neun. Denn Punkt zwölf
ist uninteressant, da hat Gott sein Werk vollendet,
da gibt es nichts mehr zu tun.
Vollendung ist für die menschliche Phantasie reizlos.“

Zeiger auf dreiviertel Neun,
denn Punkt zwölf ist uninteressant!
Mich beeindruckt diese Art, auf das Leben zu schauen,
es gerade dort liebevoll anzusehen und wertzuschätzen,
wo es zerbrechlich und wenig glanzvoll ist:
in den Halbheiten, Fehlern und schwachen Momenten.
Wieviel Druck und Schmerz könnten wir
aus unserem Leben nehmen, wenn wir es schafften,
so offen mit unseren Schwächen und Verwundungen,
den Abschieden und offenen Enden zu leben,
die wir selbst aus eigener Kraft nie und nimmer
zusammenfügen können.
Warum sollten wir auch, höre ich die Literatin Maxie Wander fragen:
Gott wird sein Werk vollenden.
Das mag auch für uns gelten.

Ich verbinde damit einen zweiten Gedanken,
eher eine Beobachtung aus der Arbeit mit den Konfirmandinnen
und Konfirmanden unserer Gemeinde. Einundreizig von diesen Jugendlichen bereiten sich
zurzeit auf ihre Konfirmation nach Ostern vor.
Das geschieht, wie vieles „unter Corona“ digital,
so aktuell in den vergangenen Wochen
bei der Suche nach dem eigenen Konfirmationsspruch.
Zwei Dinge sind mir dabei in diesem Jahr aufgefallen:

Zum einen die große Sorgfalt, ja fast Akribie,
mit der die Jugendlichen ihre Bibelworte aussuchen.
Passen sollen sie als Momentaufnahme
der eigenen Art, christlichen zu glauben,
und zugleich noch genügend Luft bieten,
um weiterhin mitzuwachsen zu können ins Leben hinein.
Keine einfache Aufgabe, aber eine die gut gelingt!

Meine zweite Beobachtung ist diese:
Durch viele der ausgewählten Bibelworte zieht
sich ein Gedanken wie ein roter Faden:
Was braucht es eigentlich, um das Leben gut zu leben?
Die Bibelworte und Konfi-Gedanken dazu sagen:
vor allem das Gefühl, nicht allein unterwegs zu sein,
sondern andere Menschen an der Seite zu haben.
Von Offenheit und Ehrlichkeit ist die Rede,
vom Wunsch, unverstellt seine Wege gehen zu können,
von Freundschaft und auch der Fähigkeit,
sich und anderen Fehler vergeben zu können.
An vielen Stellen verbinden sich diese Gedanken
sodann mit einem Bild von Gott, der nicht in einem
weit entfernten, lebensfremden Oben zu suchen ist,
sondern ganz selbstverständlich seinen Platz findet
mitten im echten Leben, das von oft richtigen und auch
von falschen Entscheidungen beeinflusst wird,
das Wünsche kennt und Fragen an die Zukunft hat.

Aber das, was ich hier zu sagen versuchen,  klingt im
O-Ton der Jugendlichen ohnehin besser, nämlich so:
Der Glaube an Gott drückt für mich Kraft und Mut aus,
um Dinge zu verändern und anzupacken,
auch wenn andere nicht daran glauben.
Egal wie viele Versuche, Kraft oder Mut es braucht,
Gott hilft mir dran zu bleiben. Das finde ich richtig gut.
Aber genauso kann ich andere dazu ermutigen,
nicht die Hoffnung zu verlieren, sondern daran
zu glauben und auf Gott zu vertrauen.

So kann es klingen, wenn der Blick frisch und frei
dorthin geht, wo das Leben noch unvollendet ist.
Und alle heute Morgen hier, deren Lebensuhren
so wie meine eigene schon weitervorgerückt sind,
die dürfen dazu den Gedanken vom Anfang hören:
Wir Menschen bleiben in allen unseren Versuchen,
das Leben zu meistern, immer Bruchstücke,
„Fragmente aus Vergangenheit und Zukunft“.
So hat es der Theologe Henning Luther einmal formuliert,
der selbst früh verstorben ist mit 43 Jahren
nach einem kurzen Leben mit vielen offenen Fragen.

Unsere Lebensgeschichten sind immer beides:
Sie sind Verlustgeschichten.  Sie erzählen von zerbrochenen Hoffnungen,
vertanen Chancen, verletzter Liebe und schmerzhaften Abschieden
und bleiben so unvollkommen.
Und zugleich lebt in mir auch etwas anderes:
meine noch nicht erfüllten Wünsche und
die größeren Hoffnungen. Mitten im Bruchstückhaften lässt sich
schon etwas von einem Ganzen ahnen,
das mit meinem Wollen nie erreicht werden kann.
Auch der Bibel ist dieser Gedanken wesentlich.
Im ersten Korintherbrief schreibt der Apostel Paulus
davon mit Worten, die meine Predigt beschließen sollen:
„Unser Wissen ist immer Stückwerk.
Wenn aber das Vollkommene kommen wird,
so ist das Stückwerk vorbei. Wir sehen jetzt durch
einen Spiegel in einem dunklen Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde
ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“

Stückwerk ist unser Wissen,
Stückwerk bleibt unser Leben.
Ich muss nicht vollkommen werden.
Ich darf in Heiterkeit Fragment sein.
Oder in den Worten Maxie Wanders:
„Zeiger auf dreiviertel Neun.
Denn Punkt zwölf hat Gott sein Werk vollendet,
da gibt es für uns nichts mehr zu tun.“


Mehr zu Maxie Wander mit einem Klick hier.


 

"Auffahren mit Flügeln wie Adler" Andachtswort in St. Hedwigs Garten

 

„Hebt eure Augen in die Höhe und seht!
Wer hat dies alles geschaffen?
Gott ist es, der die Werke vollzählig herausführt
und ruft sie alle mit Namen;
seine Macht und starke Kraft sind so groß,
dass nicht eins von ihnen fehlt.
Weißt du das nicht? Hast du es nicht gehört?
Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat,
wird nicht müde noch matt.
Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.
Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.“

 

Was für wunderschöne und tröstliche Worte sind das, die der Prophet Jesaja da spricht: „Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Sie gelten Menschen, die solche Worte dringend nötig haben: Frauen und Männer aus dem Volk Israel, die fern der Heimat leben müssen, im Exil in Babylon. Ja sicher, sie leiden dort keinen Mangel, aber sie sehne sich nach ihrer Heimat. Ihre Seele ist zerfranst vor Kummer. Und ihr Glaube droht ihnen abhanden zu komme: Wo ist Gott jetzt und hier? Und dann hören in den Worten des Propheten: „Hebt eure Augen in die Höhe. Schaut weg von dem, was euch bedrängt und hin zu dem, der alles geschaffen und geordnet hat:

„Die auf diesen HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Was für wunderschöne Worte sind das. Sie sollen auch uns trösten, wenn wir matt und müde sind. Wir alle wissen das: Kraft zu besitzen, das ist nicht selbstverständlich. Wie schön ist es, morgens fröhlich aufzustehen. Nach einer Nach mit gutem Schlaf, da mag der Tag gern kommen. Doch manchmal ist es anders. Da hänge die Flügel schon am Morgen ganz matt herunter. Da sind Kopf und Herz voller Fragen. Das kann alles eigentlich nur schlimmer werden.

An solchen Tagen rücken mir die Worte aus dem Jesajabuch ganz nahe: „Heb deine Augen auf. Schau einen Moment nur weg von dem, was dich bedrängt, auf das, was Gott zu tun imstande ist:

„Weißt du das nicht mehr? Hast du vergessen, was auch dir gesagt ist? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt.“

Diesem Gott kannst du alles zu trauen, weil von ihm alles zu erwarten ist. Dieser Gott gibt den müde Gewordenen neue Stärke, nach vorn zu blicken, die lahmen Flügel zu strecken und sich aufzuschwingen, von einer unsichtbaren Kraft getragen.

Im Glauben an Gott geht es im Grunde immer darum: das es Hoffnung gibt! Gerade dort, wo das Leben feststeckt, wo Angst und Zweifel groß sind, soll auch es auch Hoffnung geben dürfen auf Veränderung, auf Besserung.

Hoffnung ist wie eine bessere Aussicht, wie ein geöffnetes Fenster, durch das ein Lichtstrahl fällt, der hoffen lässt. Das tut der Prophet Jesaja hier mit seinem großen Trost.

Und dann gilt auch: Bedrängnisse - ich mag dieses alte, deutsche Wort - brauchen keine Superkräfte, sondern vor allem Geduld und einen anderen Blick. Aus beidem kann Hoffnung werden. Damit dies geschieht, brauchen wir hier und da Menschen, die zu uns kommen und sagen: Gott gib den Müden Kraft. Auch dir und mir. Der Prophet Jesaja sagt es viel schöner:

„Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“


Immer am letzten Mittwoch im Monat ist die Magni-Gemeinde zur Andacht zu Gast im St. Hedwighaus an der  Böcklerstraße. Am warmen und sehr frühlingshaften 24. Februar fand die Andacht Dank liebevoller Vorbereitung durch den Begleitenden Dienst im wunderschönen Garten des Seniorenzentrums statt.


 

"Maybe" Zum Sonntag Invokavit

 

"Hast du dich jemals gefragt, warum du hier bist?"
Mit dieser Frage beginnt das Buch Maybe
des amerikanischen Autors Kobi Yamada.
Im steten Dialog mit den kleinen und großen Lesern
erzählt es von den unendlichen Möglichkeiten,
die in jedem Leben schlummern, die nur darauf warten,
entdeckt und genutzt zu werden.

"Hast du dich jemals gefragt, warum du hier bist?"
Das wunderbare Büchlein Maybe fragt nach dem Sinn des Lebens
und nach dem Mut, den es manchmal braucht, die eigenen Gaben zu entfalten
und dabei die Stolpersteine nicht zu fürchten,
die uns zuweilen in den Weg gelegt sind.
Oder mit den Worten Kobi Yamadas:
"Manches wird dir Mühe bereiten, manches auch Sorgen.
Manchmal wird es sich richtig schwer anfühlen.
Was, wenn du erst an der Oberfläche kratzt
von dem, was du machen und wer du sein kannst?"

Das Evangelium für diesen ersten Sonntag in
der Passionszeit erzählt vom Weg Jesu in die Wüste.
Kann es sein, dass es die Kraft genau dieser Frage ist,
die ihn nach seiner Taufe dorthin hinausführt?
Ins einsame Ödland, an einen Ort voller Risiken,
wo alle Macht auf dem Prüfstein steht?

Sicher, bei der Taufe im Jordanfluss,
so erzählt die Bibel, da hatte sich die Stimme
vom Himmel herab hören lassen:
"Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe."
Aber, so verstehe ich die Bibel:
Zum Sohn Gottes wird Jesus nicht einfach erklärt.
Auch er muss sich selbst als Gottes Sohn entdecken.
Auch Jesus muss sich fragen, wozu er hier ist:
"Wer bin ich? Und wer könnte ich sein?"

"Darum bist du hier!", sagt die Stimme, die Jesus in der Wüste hört.
Es ist eine andere Stimme als die, die sich bei der Taufe vernehmen ließ.
Es ist der Teufel, der Diabolos, der großen Durcheinanderwerfers,
der sich in Jesus zu Wort meldet:
Genau darum bist du hier!
Weil es noch so viele Möglichkeiten gibt.
Probier sie doch nur einmal aus.
Es sind gute Möglichkeiten:
Erstarrtes soll lebendig werden.
Der Hunger nach Leben soll gestillt sein.
Und die Macht über die Erde soll endlich
in die richtigen Hände gelegt sein.

Was könntest du, Sohn Gottes, denn anderes wollen
als all das, was dir hier möglich und geboten ist?
Frage dich, warum du hier bist!
Was, wenn du erst an der Oberfläche gekratzt hast
von dem, was du auch sein könntest?

Natürlich, wir alle wissen ja, wie dieses Spiel ausgeht:
Der Gottes Sohn wird sich am Ende für die richtige innere Stimme entscheiden
und den Versucher bibelfest in die Schranken weisen.
Darum bleibt jetzt ein wenig Zeit, die biblische Erzählung vom versuchten,
auf die Probe gestellten Jesu noch einmal anders,
mit sehr menschlichen Augen zu lesen.
Denn wenn ich recht sehe, dann wird Jesus in der Wüste
in drei Grundkonflikte des Menschseins hineingeführt,
vor denen auch keiner von uns gefeit wäre.

Zunächst geht es um Hunger.
Der kann psychologisch gesprochen
für unsere triebhafte Seite stehen:
Sprich, dass diese Steine Brot werden!
Nur ein Wort und der Hunger wäre gestillt.
Aber wir alle wissen, was auch Jesus weiß:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!
Das Leben ist zu komplex, als dass es sich
allein durch das Ausleben unserer triebhaften Seite
ohne jedgliche Grenze und Rücksicht bewältigen ließe.

In der zweiten Situation, auf der Zinne des Tempels,
da geht es sodann um die immer fragile Balance
zwischen Selbstwert und Selbstüberschätzung:
Wer sich und seine Kräfte beständig überschätzt,
der lebt gefährlich, taumelt immer am Abgrund,
in den er tief zu stürzen droht.

So zu leben, nennt die Bibel den Versuch,
mit Gott als Lebensmacht Experimente zu machen.
Aber Jesus weiß, was wir bisweilen schmerzhaft erfahren:
So lässt sich Gott nicht auf die Probe stellen.

Und dann noch die letzte Situation.
In ihr dreht sich alles darum,
dass kein Mensch ein Leben ohne Werte führen kann,
ohne moralische und ethische Entscheidungen zu treffen.
Der Versucher bringt das auf den Punkt:
Woran hängst du dein Herz?
Welche Werte und Worte sollen für dich gelten?
Wovor beugst du Verstand und Knie?
Jesus entscheidet sich für die Gebote Gottes,
für seine Liebe und das Vertrauen zum ihm.

So menschlich gelesen, erzählt die Versuchung
Jesu in der Wüste eine Abfolge von Grundkonflikten,
in die jeder und jede von uns geraten kann,
in denen auch wir immer neu entscheiden müssen,
welcher Stimme in uns wir folgen wollen:

Beugen wir uns dem inneren Antreiber, dem es nie
genug ist, dessen teuflisches Da ist noch Luft nach oben!
uns dazu antreibt, rücksichtlos nach oben zu gelangen?

Oder hören wir auf die Stimme des Himmels, die sagt:
Das, was ihr seid, seid ihr immer im Blick
der Liebe und der Güte Gottes?
Vertrau darauf, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Das wird dem Leben freies Spiel und neue Weite geben -
gerade dort, wo es sich wüst und leer anfühlt,
wie gebunden ist in Sorgen und Zweifeln.

"Hast du dich jemals gefragt, warum du hier bist?"
Mit dieser Frage Kobi Yamadas habe ich begonnen.
Ich ende mit einem Gedanken von ihm:
"Wir Menschen inspirieren uns dort am allermeisten,
wo wir einander unsere Geschichten erzählen."
Im Evangelium heute Morgen ist eine solche zu hören.
Ihr Versprechen lautet:  
Wer den Weg mit Gott gefunden hat, dem werden die Engel dienen.
 


 

"Die Liebe hört niemals auf" Zum Valentinstag

 


Die Liebe hört nicht auf / mich zu verunsichern / Sie findet  Fugen zum Eingreifen / wo ich keine vermute / Sie überredet mich / in der Muttersprache des Menschen / Sie öffnet mir die Augen / und tritt als Sehnerv ein / An dieser Stelle ist der blinde Fleck / Und ich sollte nicht mit der Wimper zucken? Nun aber bleibt / Glaube Liebe Hoffnung / diese drei / Aber die Liebe ist das schwächste /  Glied in der Kette / die Stelle / an welcher / der Teufelskreis / bricht  


Eva Zeller, Nach erster Korinther dreizehn


 

"Bist du da?" Zum Tag der Kinderhospizarbeit

 

Brody ist unheilbar krank. Und der Junge weiß, dass er früher sterben wird, als andere Kinder. Aber gerade ist Brody fassungslos vor Glück. Denn seine Mama hat mit einem Schauspieler gesprochen. Und der hat ein kleines Video aufgenommen, das die Mutter ihrem Jungen mit ins Krankenzimmer bringt.

Brodys Lieblingsschauspieler ist der Kanadier Ryan Reynolds, auf der Leinwand ein Actionheld, dem fast alles gelingt. Aber jetzt, im Video spricht er nur für ihn und sagt: „Hi Brody, ich weiß, es geht dir nicht gut. Aber du sollst wissen, dass du nicht alleine bist. Auch ich denke an dich!“

Der Junge ist fassungslos vor Glück: Sein Held spricht nur zu ihm, nennt ihn beim Namen. Der Junge fühlt sich stark wie nie, als sei er beinahe schon so stark, wie sein Held auf der Leinwand. Brody wird diese Kraft brauchen für seinen schweren Weg.

Auch ohne Happyend - die Krankheit bleibt unheilbar - ist Brodys Geschichte für mich eine Hoffnungsgeschichte. Sie sagt: Unterschätzt nie, was es bedeutet, wenn wir zu jemandem sagen: „Ich denke an dich. Ich begleite dich. Ich bete für dich.“ Das ist wie eine Umarmung aus weiter Ferne, wie ein kleines Licht, das wir groß fühlen.

Heute, am 10. Februar, ist bundesweit der Tag der Kinderhospizarbeit. Es ist eine Arbeit, die hauptsächlich von Ehrenamtlichen getragen wird: Menschen, die für andere da sind, wenn das Schlimmste passiert, was Eltern sich vorstellen können: Dass das eigene Kind unheilbar erkrankt, und man weiß: Es wird nur noch begrenzte Zeit leben können.

Der Tag der Kinderhospizarbeit will daran erinnern, was es braucht, wenn eine unheilbare Krankheit das Leben einer Familie trifft: neben einfühlsamen Ärztinnen und Ärzten vor allem Menschen, die Zeit haben: zum Spielen mit den Kindern, zum aufmerksamen Hören auf die Sorgen und Wünsche, Zeit, um den Eltern den Rücken freizuhalten, den Papierkrieg mit den Krankenkassen und Behörden zu bewältigen; Menschen, die im Sterben und über den Tod der Kinder hinaus die Familien nicht alleine lassen.

Es ist ein Geschenk des Himmels, dass es diese Menschen gibt, die ihre Energie dafür einsetzen und dabei manche Träne vergießen, aber auch spüren, welche Kraft darin steckt, andere Menschen auf schweren Wegen zu begleiten.
„Bist du dabei?“ Das fragen die Initiatoren des Kinderhospiztages an diesem 10. Februar. Gut, wenn wir es sind in Gedanken heute Abend. Und wer es kann und möchte, auch mit großzügiger Geste am Ausgang dieser Andacht. Dort ist die Kollekte für die Unterstützung der Kinderhospizarbeit in unserer Stadt erbeten.

Gebet nach Psalm 90

Gott,
bei dir suchen wir Zuflucht.
Wenn wir nicht mehr wissen wohin,
bist du bei uns und mit uns.
Denn du, Gott, warst, bevor die Berge,
die Erde und alle Welt geschaffen wurde.
Du stehst ein für immer neues Leben,
in dir hat der Tod seine Bestimmung,
in deinem Wort liegt die Kraft der Auferstehung.
Gott, an dir zieht unser Leben vorüber.
Du siehst es mit gnädigen Augen an.
Deshalb bitten wir dich:
Lass uns den Tod bedenken,
dass wir zu einem Leben finden,
das stärker ist als der Tod.


Information zur Kinderhospizarbeit auf www.löwenherz.de.


 

Sternstunden

 

Es gibt Augenblicke, die man nie vergisst: „Sternstunden“ nennen wir sie. Auch in der Bibel gibt diese magischen Momente. Von einem erzählt das Evangelium des vergangenen Sonntags: Jesus führt drei seiner Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, auf einen Berg. Dort erleben die drei, wie Jesus in ein überirdisches Licht getaucht wird, und sie hören eine Stimme vom Himmel: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ (Matthäus 17,5) Für die drei Freunde Jesu ist es einzigartige Erfahrung, ein von Gott erfüllte Moment. Sie würden alles geben, um ihn für immer festzuhalten: „Augenblick, verweile doch!“ Aber das wird ihnen von Jesus verwehrt, denn sein Weg führt vom Berg hinab, aus dem göttlichen Glanz in die Dunkelheit der Welt. Auch ich weiß das ja: Sternstunden sind Moment-aufnahmen und nicht für die Ewigkeit gemacht. Aber das, was wir in ihnen erleben, das prägt uns dann oft für ein ganzes Leben.

Es ist vielleicht kein magischer Moment, aber doch eine große, historische Stunde, als der Sozialdemokrat Friedrich Ebert im Februar 1919 in Weimar zum ersten Reichspräsidenten gewählt wird. Der erste Weltkrieg ist verloren, die Monarchie hat abgedankt und das Deutsche Reich ist eine Republik geworden. Bei seiner Vereidigung sagt der vom Weltkrieg gezeichnete Ebert folgende Sätze: „Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für immer vorbei. Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in alle Zukunft sich selbst. Das ist der einzige Trost und Halt, an dem es sich aus dem Blutsumpf des Krieges und der Niederlage wieder herausarbeiten kann.“

Eine Sternstunde der Demokratie, die sich jedoch alsbald ins Gegenteil verkehrt. Die Widerstände gegen Ebert und die demokratische Idee sind einfach zu stark. Die Weimarer Republik versinkt im sogenannten Dritte Reich, in der rohen Verhöhnung und gewaltsamen Ermordung vieler den Nazis unliebsamer Menschen. Aber die Ideen vom Volk, das frei sein und nur sich selbst regieren soll, ist nicht mehr auszulöschen. Heute noch stehen wir im demokratischen Deutschland auf den Schultern Friedrich Eberts.

Als Jesus am Berg verklärt wird, so erzählt die Bibel, da lässt Gott sich vernehmen und sagt: „Ihn sollt ihr hören!“ Ein kurzer Satz nur, aber ein echter Lichtblick für dunkle Zeiten: In der Botschaft Jesu wird das rechte Maß für diese Welt, genauer für das Menschenrecht in dieser Welt offenbar. Wo die Würde des Menschen unantastbar ist, da wird auch Gott geehrt. Da erleben Himmel und Erde ihre Sternstunde. Gut, das nie zu vergessen!

Gebet

Gott, dein Licht macht alle Finsternis hell.
Dein Wort vertreibt Angst und Sorge.
Das hören wir und bitten dich
um Wort und Licht für unsere Wege
an diesem Tag und auch am neuen Morgen.


 

 

„Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt“ Gedanken zum Ende der Epiphaniaszeit

 

"Man muss sie täglich bekämpfen wie Flöhe, die vielen kleinen Sorgen, die an den besten Kräften des Menschen nagen. Jeder Tag hat genug seiner eigenen Plage. Die Dinge, die getan werden müssen, muss man tun und sich im übrigen nicht von den vielen kleinen Ärgernissen und Sorgen anstecken lassen, die ebenso viele Anzeichen von Misstrauen gegen Gott sind. Das ist unsere Aufgabe: In uns selbst große Flächen urbar zu machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe, so dass wir diese Ruhe wieder auf andere ausstrahlen können. Und  je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt."

Das sind Gedanken aus dem Tagebuch einer jungen Frau, niedergeschrieben im September 1942, mitten im 2. Weltkrieg, in den von Nazi-Deutschland besetzten Niederladen. Man muss sie täglich bekämpfen wie Flöhe,
die vielen kleinen Sorgen, die an den besten Kräften des Menschen nagen.

Dabei sind es alles andere als kleine Sorgen, gegen die sich Etty Hillesum anstemmt, die gerade einmal 29 Jahre alte Jüdin. Es geht um Lebensmittelkarten und die alltäglichen Schikanen, den Terror der deutschen Besatzer.   Es geht um das Deportationslager in Westbork, das ihr und auch den alten Eltern und den Brüdern droht. Es geht um Güterzüge, die von dort nach Polen fahren - und niemand weiß, was in Polen eigentlich sein wird.

Es ist - gut 80 Jahre zurück - eine Zeit der Verzweiflung und der Todesangst, in der viele Juden in Ettys Umgebung seelisch zusammenbrechen, erfüllt von ohnmächtiger Wut und Hass auf diejenigen, die ihnen das antun: die Nazis, die Deutschen.

Etty Hillesum aber will das nicht: Sie will nicht verrückt werden vor Angst. Sie will nicht innerlich schwarz werden vor Wut. Sie will nicht, dass die Nazis über ihr Herz herrschen. Sie will die innere Freiheit nicht verlieren, die ihr gerade erst aufgegangen ist im Glauben an Gott, der ihr innerer Schutzraum geworden ist gegen den bohrenden Zweifel und die eigene Lebensangst. Davon, was sie in diesen Jahren erlebt, vor allem wie sie es erlebt, wie sie darüber die Bindung zu Gott nicht abreißen lässt, davon erzählen ihre Tagebücher, die sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz einer Freundin anvertraut.

Etty Hillesum ist 31jährig im KZ Auschwitz gestorben. Sie hatte darauf gehofft, vielen anderen davon
Erzählen zu können, wie sie von Gottes Geheimnissen immer mehr angezogen wurde und  wie sich ihr Leben dadurch verwandelt hat. Doch  Auschwitz wurde erst am 27. Januar 1945 befreit; in dieser Woche vor 76 Jahren.

Wer in ihren Tagebüchern heute liest, dem begegnet eine unfassbar große und tiefe Nähe zu Gott - gerade dort, wo diesen Gott dem eigenen Erleben bis zum Letzten verborgen und verdunkelt scheint. Das Berührendste an ihren Texte ist für mich die große innere Klarheit und Entschiedenheit, mit der Etty Hillesum Gott nicht im Verborgenen sucht, nicht in einem weit entfernten Oben. Sie findet ihn an anderem Ort: Ganz nah, in der eigenen Mitte, in sich selbst: "In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott wie begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden." Ja, es geht für den Glauben immer nur darum: "ein Stück von Gott in uns selbst zu retten."

Das ist ein starker und tröstlicher Gedanken. Er ist auch für meinen Glauben wesentlich: Wir Menschen müssen Gott niemals erst von Ferne in unser Leben herbeirufen, weil er von Anfang an dort, in uns zu finden ist. Gott  ist nicht ferner als vor der Tür des Herzens, schreibt vor vielen Jahrhunderten bereits der Mönch und Mystiker Meister Eckhart. Und weiter: Dort also steht Gott und harrt und wartet, wen er bereit finde, der ihm auftue und ihn einlasse. Und von diesem Glauben gilt ein Zweites: So sehr er im Innern beginnt, so wenig ist er nur eine innere Angelegenheit zwischen Gott und dir. Das, was wir von Gott erfahren an Glück und Wärme, an Trost und Kraft für unser Leben, das kann und darf uns nicht selbst genügen, das will durch uns hinaus in die Welt und dort geteilt sein, wo wir, wie Etty Hillesum es formuliert, "daran mithelfen, Gott auch in den geqäulten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen."

Wie es aussehen kann, wenn Gott in uns die Mitte bildet, wenn wir dem Leben größere Bedeutung beimessen als dem Tod und die Liebe in uns mehr Gewicht bekommt als der Hass - das alles sollen und können andere nur durch uns erfahren! Es liegt auch an uns, ob und wie anderen Menschen Gott zu leuchten beginnt.
 
"Man muss beginnen, sich selbst ernst zu nehmen und das übrige kommt von selbst. Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen gleich welcher Rasse oder welchen Volkes in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht vielleicht sogar zu Liebe werden könnte." Das schreibt Etty Hillesum im Juni 1942 in ihr Tagebuch. Es sind Sätze zum Weiterdenken und Weitersagen. Fangen wir mit diesem an:

"Man muss beginnen, sich selbst ernst zu nehmen." Vielleicht ist es genau das, was den Glauben immer neu ins eigene Leben bringt: bei sich selbst beginnen, sich selbst wirklich ernst nehmen als Mensch - von Gott geschaffen, gewollt und gerufen. Nimm das mal ernst, Mensch: Dass du durch ihn, mit ihm, von ihm lebst! Nimm es ernst, wenn du betetst: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit! Und dann tritt aus dir heraus. Bleibe der Welt die Hoffnung nicht schuldig, ohne die es das Leben nicht gibt. Amen.


 

 

Lichtblick

 

"Wir hatten einen Lichtblick bitter nötig!" Diesen Satz schrieb Armin Maus, der Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung am vergangenen Samstag. Er blickte dabei auf die schier endlose Fortdauer der Corona-Krise mit ihren Nachrichten von verlängertem Lockdown, neuen Virusmutationen, Problemen bei der Produktion und Auslieferung von Impfstoffen und so weiter. Ja, man braucht zurzeit hier und dort auch mal einen Lichtblick! Aber woher?

Armin Maus hat ihn in der vergangenen Woche entdeckt - und zwar „von Westen“ her aus den USA:  Dort ist Donald Trump vorerst Geschichte. Sein Nachfolger Joe Biden wurde feierlich als Präsident vereidigt.

Der vielleicht bewegendste Moment dieser Amtseinführung war der Auftritt der 22-jährigen Dichterin Amanda Gorman. Sie trug einen selbstverfassten Text vor mit dem Titel „Der Hügel, den wir erklimmen": eine deutliche Anspielung auf die schockierenden Bilder von der Erstürmung des Capitols Tage zuvor.

Einer ihrer stärksten Sätze lautet: „Es gibt immer Licht, wenn wir mutig genug sind, es zu sehen, mutig genug sind, es zu sein.“ Amanda Gorman hat mit diesem Satz ihrer Hoffnung auf Versöhnung und Heilung der in sich so zerrissenen us-amerikanischen Gesellschaft Ausdruck gegeben.

Aber man darf diesen Satz ruhig viel grundsätzlicher hören zu Beginn dieses Jahres, das mit soviel Angst und Fragen begonnen hat: „Es gibt immer Licht, wenn wir mutig genug sind, es zu sehen, mutig genug sind, es zu sein.“

Dazu passen Worte, die der Apostel Paulus im zweiten Korintherbrief schreibt: „Denn der Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis soll ein Licht aufstrahlen, dieser Gott hat uns einen hellen Schein in unsere Herzen geben.“ Erinnert euch daran, schreibt Paulus, dass noch bevor wir Menschen da waren, von Gott her schon etwas da war, was gut ist und was uns die Angst nehmen soll. Das Licht vom Anfang ordnete die Welt. Das Licht vom Anfang räumt die Welt bis heute auf. Es leuchtet auch in unseren Herzen. Gott selbst hat es als hellen Schein dort hineingelegt.

Wer diesen Schein sieht und in sich spürt, so verstehe ich, der kann selbst für andere zu leuchten beginnen. Der kann nicht nachlassen in der Unterstützung derjenigen, die es jetzt besonders schwer haben. Der wird sich daran machen, Licht in dunkle Herzen tragen. So nur leuchtet in dunklen Situationen neue Hoffnung auf.

"Es gibt immer Licht, wenn wir mutig genug sind, es zu sehen, mutig genug sind, es zu sein." Das ist ein echter Lichtblick und ein starker Hoffnungssatz zum Mitnehmen und Weitersagen in das noch junge Jahr hinein.

 

Gebet

Gott, du sprachst: „Es werde Licht!“
Und gabst du uns weit mehr
als das Licht der Sonne.
Immer wieder legst du auf Menschen
das Leuchten deiner Gegenwart.
Darum bitten wir dich:
Nimm dieses Leuchten nicht fort
aus der Freude, die Menschen ergreift,
von strahlenden Gesichtern,
aus verbindenden Gesten,
aus der Gradheit und dem Mut,
klar zwischen Hellem und Dunklem zu unterscheiden.
Sei du, Gott, Lichtschein auf unserem Weg -
heute und morgen.
Amen.


 

 

Herzenssache

 

Er ist fast neunzig Jahre alt, wie eine Zeitung in den USA erzählt. Und seine Rente reicht einfach nicht. Also geht er arbeiten. Mehrmals in der Woche fährt er für einen Lieferdienst Bestellungen aus: Pizza, Pasta und Co. Dabei ist er so höflich und freundlich, dass besonders eine Familie auf ihn aufmerksam wird, die sehr gerne Pizza isst. Nach einer Weile bittet die Familie bei ihrer Bestellung immer ausdrücklich darum, dass nur dieser alte Herr die Pizza bringen soll.

Sie seien, so erzählen die Eltern, von der höflichen Art des älteren Boten überrascht gewesen. Und sie hätten sich auch darum gesorgt, ob er wohl zu viel arbeiten muss mit seinen fast neunzig Jahren.  Schließlich hat die Familie eine Idee: Sie sammelt in Freundeskreis und Nachbarschaft Geld für den alten Herrn. Unglaubliche 12.000 Dollar kommen in ein paar Tagen zusammen. Die schenken sie dem Mann. Der weiß zunächst gar nicht, was er sagen soll.

Das klingt alles wie ein Wunder, oder? Und ist eigentlich gar keins. Es ist reine Herzenssache! Dass Menschen hinsehen und zuhören, sich einfühlen und um andere sorgen. Und dann danach fragen, ob und wenn ja wie sie helfen können. Das ist kein Wunder, es ist eine Sache des Herzens. Ja, das Herz kann Glück bringen und Sorgen nehmen. Wenn es will!

Wer diesen Gedanken biblisch hören will, der erinnert sich an die biblische Losung für dieses noch jungen Jahr: "Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." (Lukas 6,36)

Seid barmherzig, sagt Jesus: Sorgt dafür, dass die Verbindung zwischen euren Sinnen und eurem Herzen kurz und stabil ist. Dass das eine fühlen kann, was die anderen wahrnehmen! Dann wird vieles, was ihr erlebt, eine wirkliche Herzenssache.

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." Von dieser Barmherzigkeit gilt, was auch vom Glück und der Freude, von der Liebe und vom Segen gilt: Sie wird nicht weniger, wenn man mit anderen teilt.

Gebet

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."

Du, Gott, hast dein Herz gehütet
und es anrührbar gemacht
für unser Menschenleben.
In deinem Sprachschatz
finden sich die alten Worte:
Erbarmen, Gnade,
Güte, Barmherzigkeit.
Lehre uns deine Sprache,
lass uns weitergeben,
was wir erfahren von dir:
Damit wir anderen begegnen
mit freundlichem Gesicht,
gütigen Worten,
stärkenden Gesten
und einem weiten Herzen.


 

"Verlieren muss man üben"

 

Manche fluchen, manche schmeißen die Spielsteine vom Tisch. Manche werfen den Mitspielern vor, dass sie geschummelt hätten. Das alles machen sie nur, weil sie verloren haben. Wer Kinder und Enkel hat, der weiß: „Ja, verlieren fällt oft nicht leicht.“  Und nicht nur Kinder tun sich damit schwer. „Ich bin wirklich kein guter Verlierer!“ Das sagte der scheidende amerikanische Präsident Donald Trump vor der Wahl über sich. Leider war es nicht selbstkritisch gemeint. Denn wie schwer ihm das Verlieren wirklich fällt, davon konnte sich die ganze Welt in erschreckender Weise überzeugen. „Auch verlieren will gelernt sein!“, sagt der Volksmund darum. Und aus eigener Erfahrung weiß ich: Verlieren muss man üben! Aber: Wie kann man lernen, ein guter Verlierer zu sein?

Mit dieser Frage beschäftigen sich sogar Wissenschaftler. Sie sagen: Wichtig sei dabei vor allem, Gefühle zu zulassen. Verlieren muss nicht schön sein. Es darf weh tun. Es ist nicht schlimm, wenn man verloren hat und wütend ist. Wer so verlieren darf, der kann leichter anerkennen, dass jemand anders gewonnen hat, weil er mehr Glück oder Können hatte.

Ein zweiter Schritt, der beim Verlieren wichtig ist: Nicht zu schnell aufgeben, es weiter probieren! Weil eine Niederlage immer eine gute Möglichkeit sein kann, mehr über die eigenen Stärken und Schwächen zu lernen: Wer beim Wettrennen verliert, der landet vielleicht beim Wissensquiz ganz vorne. Und umgekehrt!

Und dann noch ein dritter Gedanke zum Verlieren, das geübt werden will. Den finde ich in einem Jesuswort, das mir im alten Lutherdeutsch am besten gefällt: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Matthäus 16,26)

Mir gefällt dieses Bibelwort, weil es so fremd und so anders klingt. Und es stellt die gängigen Vorstellungen vom Gewinnen so herrlich auf den Kopf: Fängt mein Glück erst da an, wo ich alles gewonnen haben und es nichts mehr zu verlieren gibt? Oder kann es auch anders sein: Dass ich nicht immer gewinnen kann, sondern auch loslassen können muss? Eine spannende Frage, finde ich. Sie verspricht gute Erfahrungen - beim Loslassen und Gewinnen, auch wenn ich mal verliere.


 

"Good Night Lights"

 

In einem Kinderkrankenhaus in Providence,
der Hauptstadt des US-Bundesstaates Rhode Islands,
gibt es ein besonderes Ritual:
Jeden Abend um halb neun versammeln sich dort,
im Hasbro Children’s Hospital viele der kleinen
Patienten hinter der großen Fensterfront
des Krankenhauses und warten miteinander
auf die „Good Night Lights“,
die Gute-Nacht-Lichter ihrer Stadt.

Es vergeht kein Abend, an dem die Kinder
nicht dieses Lichter-Spektakel erleben können:
Restaurants und Hotels, die nahe gelegene Universität
lassen um halb neun Ortszeit eine Minute lang
ihre Lichter aufleuchten. An-aus-an-aus-an-aus.
Auch Feuerwehr und Polizei machen mit
und viele weitere Menschen,
die um diese Uhrzeit mit Autos, Fahrrädern
oder Taschenlampen unterwegs sind
und den Kindern einen Gruß zur Nacht schicken wollen.

Die Idee zu den „Good Night Lights“ für kranke Kinder
hatte der Zeichner Steve Brosnihan.
Der ist ehrenamtlich im Kinderrankenhaus tätig.
Als er eines Abends mit dem Rad nach Hause fuhr,
so erzählt er, da habe er aus einiger Entfernung
die erleuchteten Klinikfenster gesehen.
Wie schön wäre es, dachte er, wenn ich den Kindern,
die dort gerade ihre Zähne putzen, Geschichten
zum Einschlafen hören, Medikamente bekommen,
unter die Bettdecken kriechen,
noch einen kurzen Gruß schicken könnte.
Also knipste er die Stirnlampe seines Fahrradhelms an
und aus. Wie ein Signal, wieder und wieder.
Und er hoffte dabei, dass vielleicht eines der Kinder
sein Signal sehen würde.
Es wurde gesehen, wieder und wieder.
Das ließ im keine Ruhe. Schließlich konnte er auch
andere überzeugen mitzumachen,
Lichtsignale in die Nacht zu senden.
Eine kleine Geste mit großer Strahlkraft.
Und ein berührenden Botschaft:
Wir denken an euch. Werdet schnell wieder gesund!
Denn das Leben, eure Stadt, wir alle warten auf euch!

Für mich sind die Good-Night-Lights von Providence
eine echte Mutmach-Geschichte für dieses noch
junge Jahr, das in seinen ersten zweieinhalb Wochen
schon wieder mit so viel Unsicherheit und Fragen,
auch mit Angst und Sorgen begonnen hat.  
Vergessen wir darüber das andere nicht:
die Momente, in denen das Leben leuchtet;
wenn Herzen und Gesichter strahlen.
Wenn sich Wege durchs Stockedunkel auftun.
Etwas vom weihnachtlichen Glanz soll weiterstrahlen.

"Denn der Gott, der gesagt hat:
Aus der Finsternis soll ein Licht aufstrahlen,
dieser Gott hat uns einen hellen Schein in unsere Herzen geben."

Das schreibt der Apostel Paulus im zweiten Korintherbrief.  
Erinnert euch doch daran, sagt er,
dass noch bevor wir Menschen da waren,
von Gott her schon etwas da war, was gut ist
und was uns die Angst nehmen soll.
Die Welt, in die wir kommen, ist nicht mehr allein
von Finsternis beherrscht. Ihr ist eine Grenze gesetzt,
damit niemand verängstigt durchs Dunkel tasten muss.
Das Licht vom Anfang ordnet die Welt.
Und dieses Licht ist auch in den Menschen,
die Gott gemacht hat, geformt aus Erde vom Acker
und dann mit Gottes Odem belebt.
Das Licht vom Anfang räumt die Welt bis heute auf.
Es leuchtet auch in unseren Herzen.
Gott selbst hat es als hellen Schein dort hineingelegt.

Ein guter Gedanke: In uns ist Licht!
Unsere Herzen sind keine dunklen Kammern,
in denen alle möglichen Schatten lauern
und wir Halabdunkel an den Wänden entlang tasten.
Unsere Herzen sollen und können anderes sein:
helle, einander gastfreundliche Orte.
Wer diesen Schein in sich spürt, so verstehe ich,
der kann selbst für andere zu leuchten beginnen,
der wird sich daran machen, Licht in dunkle Herzen tragen.
Der weiß, was uns und anderen ist und gut tut.

"Gott hat uns einen hellen Schein in unsere Herzen geben."
Das ist ein starkes Lichtsignal für dieses Jahr,
das so angefasst und verängstigt und desillusioniert wirkt,
schon bevor es richtig angefangen hat.

Die Kinder im Krankenhaus von Providence antworten
auf die Lichter ihrer Stadt. Sie grüßen zurück.
Mit Taschenlampen oder Zimmerleuchten.
Jeden Abend, bevor sie zu Bett gehen.


 

Brich auf mein Herz! Zum Epiphaniastag

 

Ein neues Jahr hat begonnen. Auch in diesem Jahr ziehen alle Wege vom Morgenland zum Abendland durch die Wüsten des Lebens endlos an Vergänglichkeit vorbei. Aber man kann auf ihnen die selige Reise der Pilgerschaft zum Absoluten machen, die Reise zu Gott. Brich auf mein Herz und wandere! Es leuchtet der Stern. Viel kannst Du nicht mitnehmen auf den Weg. Und viel geht Dir unterwegs verloren. Lass es fahren. Gold der Liebe, Weihrauch der Sehnsucht, Myrrhe der Schmerzen hast du ja bei dir. Gott wird sie annehmen. Und wir werden Ihn finden.


Gedanken von Karl Rahner, einem der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Mehr zum Epiphaniasfest auf www.anderezeiten.de.


 

Seid barmherzig! Gedanken zur Jahreslosung 2021

 

Wir haben soeben das Märchen von den Sterntalern gehört.                                                                                                                                  

Es ist für mich das schönsten Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm.
Wir dürfen es an diesem Altjahresabend hören
als kongeniale Entfaltung der biblischen Losung für das neue Jahr:
"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."
Ein Jesuswort aus dem Lukasevangelium.

Und genau davon erzählen die Sterntaler:
Dass ein Menschenkind, vom Leben ungeküsst,
sich im Vertrauen auf Gott in die Welt aufmacht,
dabei anderen bis aufs letzte Hemd barmherzig wird,
bis es von Gott diese Barmherzigkeit selbst erfährt:
"… und es war reich für sein Lebtag."

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."
Wie hören wir dieses Jesuswort am Ende
eines so besonderen, in vielem schwierigen Jahres?
Wir haben die ganze Welt und unser Leben darin
im eisernen Griff eines kleinen Virus erlebt.
Und wir spüren immer noch täglich,
dass diese Pandemie keinen Unterschied macht
zwischen Herkunft, Kultur, Religion, sozialem Status.

Wir haben vor allem zu Beginn der Pandemie
viele Gesten des Ich oder Wir zuerst erlebt:
beim emsigen Hamstern von Mehl und Klopapier,
beim hartherzigen Horten von Schutzmasken
und medizinischem Gerät.

Es gab - Gott sei Dank! - auch das andere:
Zeichen der Verbundenheit und Gemeinschaft,
viel Achtsamkeit, Mitgefühl und Solidarität;
und die Einsicht, dass wer handelt,
auch Fehler machen wird in seinen Entscheidungen:
dass wir einander dankbar sein dürfen,
aber auch viel verzeihen müssen.
Und auch im neuen Jahr wird nicht alles gut und richtig sein,
was Menschen tun, was ich tue und entscheide.
Aber wir können immer eines tun: barmherzig damit umgehen.

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."
Was hören wir aus diesem Jesuswort heraus
an der Schwelle zum neuen Jahr?
Für mich sind dies vor allem drei Dinge
im Blick zurück und voraus:

Zunächst die deutliche Erinnerung daran,
dass unser Glaube an Gott immer untrennbar
verbunden ist mit unserem Blick auf diese Welt.
Wenn ich daran glaube, dass Gott ein großes
und weites Herz hat für diese Welt und ihre Not,
dann werde ich mein Herz dieser Welt
nicht verschließen können.
Seid barmherzig, sagt Jesus: Sorgt dafür,
dass die Verbindung zwischen euren Sinnen
und eurem Herzen kurz und stabil ist!
Dass das eine fühlt, was die anderen wahrnehmen.

Barmherzigkeit ist, so höre ich zum Zweiten,
eine Haltung, die nichts mit Sympathie zu tun hat.
Seid barmherzig, sagt Jesus, aber nicht nur
zu denen, die ihr kennt und schätzt und liebt,
sondern zu allen Menschen. Weil sie Menschen sind.
Gottes Kinder, so bekennt es der christliche Glaube.

Wir brauchen eine Kultur der Barmherzigkeit,
wenn wir Menschen bleiben wollen.
Wo Barmherzigkeit fehlt, wird es schnell fürchterlich.
Das schreibt Ulrich Lilie, der Präsident der Diakonie
in Deutschland mit Blick auf die Jahreslosung.

Barmherzigkeit ist, so verstehe ich ihn, darum
immer eine persönliche und politische Haltung.
Sie ist Anspruch an das eigene Verhalten.
Sie versteht sich nicht von selbst,
sondern will beständig gepflegt und gehütet
werden als Akt der Herzensbildung.
Und sie fordert uns miteinander,
damit wir als Gesellschaft unseren Sinn
und unsere Empathie füreinander nicht verlieren.

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."
Ein dritter und letzter Gedanke noch:
Barmherzigkeit ist nie ein Geschäft
auf Gegenseitigkeit, nicht eine Hand wäscht die andere.
Barmherzigkeit ist mehr: Sie durchbricht das,
was zu berechnen oder zu erwarten ist.
Wie ich selbst froh und dankbar bin,
wenn ich Erbarmen erfahre mit meinen Schwächen
und Fehler, so werden es andere auch sein.
Darauf lasst uns vertrauen.

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist."
Von dieser Barmherzigkeit gilt,
was auch vom Glück und der Freude,
von der Liebe und vom Segen gilt:
Sie wird nicht weniger, wenn man mit anderen teilt.
Amen.


 

Mach dir keine Sorgen!

 

Tommaso ist fünf Jahre alt und lebt in Italien. Nach allem, was ich von ihm weiß, ist er ein kluger, kindlicher Kopf, der jedoch vor Weihnachten große Sorgen hat. Wenn jetzt wegen Corona niemand mehr reisen darf, so fragt sich Tommaso: Wie, bitte schön, kommt dann der Weihnachtsmann zu mir und anderen? Wer die italienische Art, Weihnachten zu feiern, ein wenig kennt, der weiß, dass der Babbo Natale nicht nur für Kinder von großer Wichtigkeit ist. Ohne ihn wird am 25. Dezember nicht Weihnachten!

Schließlich hat Tommaso eine rettende Idee: Mit Hilfe seines Vaters schreibt er einen Brief direkt an den italienischen Ministerpräsidenten. Und siehe da: Der antwortet umgehend: „Mach dir keine Sorgen, Tommaso! Babbo Natale hat eine Reisegenehmigung, die für alle Länder dieser Erde gilt. Er darf überall hinreisen und Kinder beschenken. Außerdem trägt er Maske und hält Abstand. Stell‘ ihm nur ein Paar Kekse und etwas Milch neben den Weihnachtsbaum.“

Nun ist Weihnachten vorüber und Tommaso wird wissen, ob der Babbo Natale corona-konform reisen konnte. Das schönste Moment an dieser kleinen Geschichte, die sich digital schnell und weit verbreitet hat, ist für mich ohnehin etwas anderes: die Art und Weise, wie die Großen (und Mächtigen) die Sorgen des Jungen ernstnehmen. Auch Kindersorgen sind schwere Sorgen, genauso schwer wie bei uns Großen. Mit und ohne Corona.

„Mach dir keine Sorgen!“ Jeder und jede von uns weiß, wie gut dieser Satz der eigenen Seele tun kann, wenn er aufrichtig gesagt ist, wenn Angst und Fragen nicht einfach wegwischt oder sogleich daraufhin bewertet werden,
ob sie berechtigt sind oder nicht. Auch wenn wir nicht immer genau wissen können, was andere gerade suchen oder brauchen, so können wir doch ihre Sorgen teilen. Das sollte uns allen immer kinderleicht sein!

„Mach dir keine Sorgen!“ Wer diesen Satz auch zwischen den Jahren noch einmal weihnachtlich hören will, der hört ihn so: Als Gott zur Welt kommt, gilt sein erstes Wort den Sorgen: „Fürchtet euch nicht!“ So haben es die Engel gesagt. So haben es die Hirten gehört. So ist es auch uns zugesagt.

Der Gott, an dessen Krippe ich meine Sorgen und mein Glück bringen darf, er hat sich längst in mein Leben hineingelegt und spricht: „Fürchte das Leben nicht, weil ich eben dort zu finden bin!“


 

Perspektivwechsel - Predigtwort zum Weihnachtsfest

 

"Unfassbar
Dass etwas Größeres in meine Welt hineinscheint
Dass ich mit anderen Augen sehen kann
Es ist doch ganz klar
Dass Gott fehlt
Ich kann unmöglich glauben
Nichts wird sich verändern
Es wäre gelogen, würde ich sagen:
Gott kommt auf die Erde!"

Das sind Verse der Theologin Iris Macke.
Wir haben gemeinsam Theologie studiert.
Eine gute Schreibe hatte sie damals schon -
und hat sie heute immer noch:

"Ich kann unmöglich glauben
Nichts wird sich verändern
Es wäre gelogen, würde ich sagen:
Gott kommt auf die Erde!"

Manchmal braucht es das:
den ungewohnten Gedanken
oder eine überraschend quere Aussage,
an der man hängen bleibt und die einen das,
was eigentlich längt bekannt und blind vertraut ist, noch einmal ganz neu und anders sehen lässt.
Mir ist es in diesem Advent mit dem Text von Iris Macke so gegangen:

"Unfassbar
Dass etwas Größeres in meine Welt hineinscheint
Dass ich mit anderen Augen sehen kann
Es ist doch ganz klar
Dass Gott fehlt"

Es ist wirklich nicht schwer,
in diesen Tagen zynisch oder verbittert zu sein.
Und es ist auch nicht schwer,
anderen zu sagen, was gerade nicht geht
und wie wenig sinnvoll Zuversicht jetzt ist,
weil da noch lange kein Licht am Ende des
Tunnels zu sehen ist, durch den wir gehen.
Schwer und mühsam ist es, das Gegenteil zu tun:
nicht aufzustecken in all den Einschränkungen,
die uns jetzt zugemutet sind und die es vielen
so schwer machen an diesen Weihnachtstagen.
Es fällt eben nicht leicht, uns und anderen einzugestehen,
dass wir verletzlich geworden sind und dünnhäutig am Ende dieses anstrengenden Jahres.

Die größte Herausforderung ist jedoch,
weiter Zuversicht ins Leben zu haben,
Zutrauen in die eigenen und gemeinsamen
Möglichkeiten - und vor allem den Mut,
weiter darauf zu setzen, dass Gott nicht fehlen wird!

Weihnachten hilft uns, die Unberechenbarkeit des Lebens auszuhalten!
Das ist ein großartiger Satz.
Er wurde mir in diesem Jahr in die Weihnachtspost gelegt wurde. Danke dafür!
Und weil das Leben zurzeit so unberechenbar ist und dennoch Weihnachten,
beginne ich besser noch einmal von vorne –
und lese den Text von Iris Macke ein zweites Mal: diesmal von unten nach oben:

"Gott kommt auf die Erde!
Es wäre gelogen würde ich sagen
Nichts wird sich verändern.
Ich kann unmöglich glauben
Dass Gott fehlt
Es ist doch ganz klar
Dass ich mit anderen Augen sehen kann
Dass etwas Größeres in die Welt hineinscheint
Unfassbar."

So von unten nach oben gelesen klingt Weihnachten! Wir dürfen an der Krippe die Perspektive wechseln,
einen neuen, anderen Blick wagen auf das Leben, das nicht mit sich alleine bleiben muss,
weil Gott uns nahekommt.
Im Kind in der Krippe beugt Gott sich tief
in unser Leben hinab; fühlt uns unter die Haut.
Nichts, was uns freut oder plagt, bleibt diesem Gott fremd:
die Schönheit des Lebens und seine Abgründe nicht,
die erfüllte Liebe und ihre bittere Enttäuschung nicht, nicht die Todesangst und das tiefe Aufatmen danach.

"Gott kommt auf die Erde!
Es wäre gelogen würde ich sagen
Nichts wird sich verändern."

Wer die weihnachtliche Erzählung vom großen Gott, der so weit geht,
um im Leben seiner Menschen neu anzukommen, aufmerksam hört, der wird darüber staunen müssen,
wie sehr sich hier die Alltagserfahrungen unserer Welt umkehren:
Im armseligen Stall ist das Heil neu zu finden.
Im hilflosen, angewiesenen Neugeborenen erfahren Menschen Gottes Nähe.
Nicht wer am meisten hat, erlebt die größte Freude!
Nein: Von Herzen froh wird, wer anderen etwas von ihrer Furcht vor dem Leben nimmt,
indem er von der Hoffnung erzählt, die in ihm ist.

"Gott kommt auf die Erde!
Ich kann unmöglich glauben
Dass Gott fehlt
Es ist doch ganz klar
Dass ich mit anderen Augen sehen kann
Dass etwas Größeres in die Welt hineinscheint
Unfassbar!"

Ja, das ist es: wirklich unfassbar!
Darum: Frohe Weihnachten!
Und Gott befohlen!


 

Wie weit ist es noch?

 

„Papaaaa, wie weit ist es noch?“ Wenn unserem Jüngsten unterwegs der Geduldsfaden reist, dann wird er die Ungeduld in Person. „Sag schon, Papa: Wann sind wir endlich da?“ Und ich vermute, diese oder ähnliche Fragen kennt so gut wie jeder, der einmal mit Kindern oder Enklen gereist ist.

Manchmal ist es leicht, über allzu große kindliche Ungeduld hinweg zu lächeln, zumindest dann, wenn man selbst die Strecke kennt. Wenn das aber mal nicht der Fall ist, sieht es schon anders aus, oder? Das merkt man spätestens dann, wenn man einmal mit dem Auto oder zu Fuß im Nebel unterwegs war und plötzlich die bekannten Bezugspunkte zur Orientierung fehlen.

Irgendwie erinnert mich unser momentaner Lebensalltag an diese Situation. Da kann man vieles noch so sorgfältig und umsichtig vorausdenken - und plötzlich versinkt alles im Nebel dieser Epidemie. Nichts scheint mehr sicher, alle Planungen werden von einem Tag zum anderen ganz plötzlich zur Makulatur. Fahren auf Sicht ist angesagt - und diese Sichtweite scheint fast stündlich abzunehmen.

Ist es noch weit? Bis Weihnachten? Bis die Infektionszahlen wieder sinken? Bis die Impfung endlich starten kann? Bis ich eine Chance habe, den Impfstoff zu bekommen? Bis die Krankenhäuser und Pflegeheime wieder normal arbeiten können? Bis man nicht mehr bei jedem Niesen unwillkürlich zusammenzuckt? Bis wir wieder Freunde treffen können, ohne zu überlegen, wie viele Hausstände da zusammenkommen?

Ich könnte diese Frageliste sicher noch weiterschreiben. Aber ich merke schon so: Ja, es ist wirklich lange her, dass ich selbst derart sehnsüchtig auf Dinge gewartet habe. Und oft genug fühle ich mich momentan wie unser Jüngster, wenn der Geduldsfaden kräftig gespannt ist: randvoll mit Wünschen, ungeduldig bis zum Platzen: Ist es noch weit? Wann ist es soweit?

Bald, ganz bald ist es so weit, sagt eine leise Stimme in mir. Schau nur, da vorne: Siehst du die Freude in den Augen? Da wird Licht sein am Ende des Weges. Und Gott ist an deiner Seite, der deine Ungeduld sieht, deine Sorgen kennt und deine Schritte lenken will. Ein Adventslied meiner Kindertage singt es so: „Ist es noch weit nach Bethlehem? Nein, nein, sehr nah! Kann ich im Dunkeln weitergeh‘n? Ja, bald bist du da!“


 

Mein Herz ist bereit - Zum vierten Advent

 

Das wäre schön auf etwas hoffen zu können
was das Leben lichter macht und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche
und dann den Mut haben
die Türen weit aufzumachen
und die Ohren und die Augen und auch
den Mund nicht länger verschließen
das wäre schön
wenn am Horizont Schiffe auftauchten
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot bis an den Rand
das mehr wird immer mehr durch Teilen
das wäre schön …

Das sind Verse aus einem Gedicht
der Lyrikerin Carola Moosbach.
Sie begleiten mich durch diesen Advent,
der so ganz anders ist als alle zuvor gekannten
in meinem Leben:

im strengen Korsett aus Alltagsregeln,
mit sorgenvollem Blick auf Zahlen und Menschen
und mit der steten Frage im Kopf,
wie wir einander so verbunden bleiben können,
dass das eigene Herz nicht
noch müder und einsamer wird.

Auch wenn alles festlich glänzt und leuchtet,
so leben wir in diesem Advent weiter
ganz nah am Schrecken dieser Welt.
Und wir erleben täglich, wie eng und begrenzt,
ja gefährdet das Leben für viele ist.
Da ist viel Enge und wenig Weite zu spüren.

Advent? Ja, vielleicht, aber ---
Das wäre schön auf etwas hoffen zu können
was das Leben lichter macht und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche …
Nicht jeder wird das in diesen Tagen finden können.
Mancher Horizont wird eng bleiben.
Und die Unsicherheit größer als
Zuversicht das Herz beruhigen könnte.
Wie gut, dass wir in diesem anderen Advent
nicht nur bei uns selbst verharren müssen.
Wer in diesen strengen Wochen die Bibel
zur Hand nimmt und in den Texten der Adventssonntage zu lesen beginnt,
dem kann dabei das Herz leichter werden.

Die im Finstern wandeln, werden Licht sehen,
flüstern diese Bibeltexte.
Seht auf und erhebt eure Häupter, rufen sie,
weil sich eure Erlösung naht!
Kopf hoch, es kommen andere Zeiten!
Ihr habt doch allen Grund zum Jubel,
sagen sie, denn Gott kommt und bleibt,
bewohnt eine Stadt, eine Hütte, ein Herz.
Frieden wird werden.
Darum: Freuet euch, denn der Herr ist nahe!

Und wer einmal in diese adventliche Welt
mit ihren Worten und Bildern eingetaucht ist,
der beginnt Ausschau zu halten nach den Schiffen,
die auftauchen am Horizont:
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot bis an den Rand
das mehr wird immer mehr durch Teilen.

Wer diese Hoffnungszuversicht noch einmal anders hören will, der hört es in den Worten Paul Gerhardts
aus dem wunderbar schlichten Adventschoral
vom Eingang dieses Gottesdienstes:

Das schreib dir in dein Herze, /
du hochbetrübtes Heer, /
bei denen Gram und Schmerze /
sich häufet je mehr und mehr; /
seid unverzagt, ihr habet /
die Hilfe vor der Tür; /
der eure Herzen labet /
und tröstet, steht allhier.

Das, genau das ist Advent, meine ich:
trotz allem, was uns klein machen,
in die Enge treiben will,
den Glauben an Gott nicht zu verlieren;
die Hoffnung nicht aufzugeben,
dass dieser Gott uns entgegenkommt,
dort bei uns einziehen will,
wo die Herzen eng und ängstlich ist;
ja die Wünsche an das Leben
nicht zu klein werden zu lassen,
sondern gerade so groß wie die Verheißungen
dessen sind, dem wir im letzten gehören.

Freut euch, denn: Der Herr ist nahe!
Man kann sich diese Freude nicht verordnen lassen. Aber: Man muss sie sich auch nicht verbieten.
Sie braucht keine großen Gesten,
die kleinen reichen aus:
ein angezündetes Licht,
ein Adventschoral,
ein freundliches Wort,
ein Stern, ein Kind.
Und ich merke: Mein Herz ist längst bereit!
Es schlägt ihm entgegen.


 

Songs of Comfort and Hope

 

„Die Aufgabe eines Musikers besteht darin, auf Nöte zu reagieren!“ Diesen Satz sagt Yo-Yo Ma, einer der berühmtesten Cellisten der Welt. Als im März der erste Corona-Lockdown kam, saß er zuhause in Cambridge, Massachusetts, und wollte seiner Aufgabe als Musiker nachkommen und auf die Not reagieren. Nur wie?

Schließlich nahm er sein Cello, setzte sich vors Smartphone und spielte. Das Video lud er im Internet hoch. Es wurde in kurzer Zeit vielfach geteilt. Und weil Yo-Yo Ma danach immer weiterspielte, entstand über Wochen und Monate hinweg das Projekt „Songs of Comfort and Hope“. Es erreichte weltweit mehr als 18 Millionen Menschen.

Über seine „Lieder von Trost und Hoffnung“ sagt Yo-Yo Ma: „Sie sind oft wie kleine Kapseln voller Emotionen: sie können lange verlorene Träume und Wünsche enthalten, aber auch starke Empfindungen von großer Kraft, Optimismus und Gemeinschaftsgefühl.“

Man darf diesen Satz gerne adventlich hören! Wer in diesen strengen Tagen, in denen viele sich müde und wie gelähmt fühlen, in die Kirchen unserer Stadt (oder ihre digitalen Räume) einkehrt, der kann dort etwas von der großen Trost- und Hoffnungskraft erfahren, die in unseren Adventsliedern steckt: Da öffnen Schlüssel verriegelte Türen. Mächtige Tore schwingen auf. Verschüttete Pfade werden wieder begehbar. Besungen wird die überreiche Freude, aber auch das, was vermisst oder sehnsüchtig erwartet wird: „Wo bleibst du Trost, der ganzen Welt?“

Ich finde mich wieder in diesen ungeduldigen Worten: Ja, mein Gott, wo bleibst du denn? Nun reiß doch endlich den Himmel auf! Komm, tröste uns und lass uns empfindsam sein für Nöte und Sorgen der anderen. Auch davon singt der Advent: Hoffnung heißt, sich zu kümmern und zu sorgen. Und miteinander darauf zu vertrauen, dass Gott das Leben nicht aus seiner Hand fallen lässt.


Adventslieder zum zuhören und Mitsingen gibt es auf www.propstei-braunschweig.de


 

Zum Welt-AIDS-Tag: Leben ist ein Menschenrecht!

 

„Als mein Vater noch lebte, sagte er oft: ‚Ricardo, du musst ein Ziel haben im Leben, ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.‘ Dann kam das Ergebnis: HIV-positiv. Dann kam die Krankheit. Da kämpfte mein Vater nur noch um jeden einzelnen Tag. Meine Mutter kämpfte um sein Leben mit Gebeten und den armseligen Mahlzeiten, die wir uns leisten können. Ich kämpfte für ihn auf der Straße: als Schuhputzer, Lastenträger, Eisverkäufer, Autowäscher. Ich zählte mein Geld, ob es wohl für die Tabletten für einen Tag reichen würde. Es reichte nie. Erschöpft und verzweifelt starb mein Vater. Erschöpft und verzweifelt kämpft meine Mutter weiter Tag für Tag um eine Mahlzeit, um ein bisschen Würde, um unser Leben. Aber ich kämpfe mit Zorn und mit Mut für die, die die Krankheit haben, für ihre Kinder, für ihre Familien: Um Medizin kämpfe ich, die wir bezahlen können, die uns nicht wie ein Almosen in die Hand gelegt wird. Um unser Recht auf Behandlung, die den Kranken ihre Würde lässt, um Achtung, Respekt und Verständnis kämpfe ich, für die, die das Sterben in der eigenen Familien ertragen. Ich kämpfe. Für meinen Vater.“

Eine aufrüttelnde Rede voll Zorn und Mut, gehalten von einem jungen Mann aus Lateinamerika. Ricardo ist einer von weltweilt 15 Millionen Waisen oder Halbwaisen, deren Eltern an den Folgen des HIV-Virus gestorben sind.

Heute, am ersten Dezember, ist Welt-AIDS-Tag. Es ist im Jahreskalender ein politischer Aktionstag, der uns allen die immer noch große Gefahr dieser globalen Epidemie ins Bewusstsein rufen soll. Die Zahlen der aktuellen HIV-Statistik sind noch immer erschreckend: Seit Beginn der Epidemie vor über 35 Jahren haben sich über 78 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Im Jahr 2019 waren es 1,7 Millionen Neuinfektionen. Über 35 Millionen Menschen sind laut UNAIDS, dem Hilfsprogramm der Vereinten Nationen, bislang weltweit an AIDS-Erkrankungen gestorben.

Die Zahlen der Statistik sind das eine an diesem ersten Dezember. Sie sagen uns, dass der Kampf gegen AIDS eine globale Kraftanstrengung bleiben muss.

Das andere an diesem Welt-AIDS-Tag ist die Erinnerung an die persönlichen Schicksale, die hinter den Zahlen stehen. Das Schicksal Ricardos ist eines davon: „Ich kämpfe mit Zorn und Wut für die, die die Krankheit haben, ihre Kinder, ihre Familien … um Achtung, Respekt und Verständnis kämpfe ich, für die, die das Sterben in der eigenen Familien ertragen.“

Die Botschaft an diesem ersten Dezember sollen wir hören: Damit Ricardos Kampf nicht vergeblich ist, kommt es auch auf uns an! Es braucht unsere Solidarität mit denen, die mit HIV leben, und denen, die zu ihrem Leben gehören: Menschen, die um Betroffene Angst haben, die um ihre Toten trauern, die helfen wollen, der Krankheit vorzubeugen, ihre Schrecken zu bekämpfen.

Gut, wenn wir nie vergessen: Leben ist ein Menschenrecht!


Mehr Infos auf www.aids-kampagne.de


 

Blick in die Geschichte: Verbrechen gegen die Menschlichkeit

 

Am 20. November 1945 wurde in Nürnberg ein neues Kapitel Weltgeschichte ausgeschlagen. Damals, vor 75 Jahren begann in der Stadt der Reichsparteitage der erste Prozess der alliierten Mächte gegen Verantwortliche des Dritten Reichs, soweit sie noch lebten.  Auf der Anklagebank saßen führende Vertreter des Nazi-Regimes, u.a. Hermann Göring, Baldur von Schirach, Rudolf Hess und Albert Speer. Sie alle mussten sich vor einem internationalen Gericht für ihre Taten verantworten. Die vier Anklagepunkte lauteten: Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verschwörung. Zum ersten Mal wurde versucht, verantwort-liche Kriegsverbrecher strafrechtlich zu belangen.

„Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank. Riesengroß und unsichtbar sitzen sie neben den angeklagten Menschen“, notierte damals der Schriftsteller Erich Kästner.

Als erste Prozess im Justizpalast von Nürnberg, dem viele weitere folgten, nach 218 Verhandlungstagen endete, gab es für die Angeklagten Todesurteile und mehr oder weniger lange Haftstrafen. Angesichts der unvorstellbar grausamen Taten und der Millionen von Toten in den Jahren von 1933 bis 1945 wirken die Nürnberger Prozesse eher klein; bedeutend aber waren und sind sie dennoch bis heute: keine Schauprozesse, sondern rechtsstaatliche Verfahren, keine blinde Rache von Siegern an Besiegten, sondern der aufrichtige Versuch, die zivilisierte Welt neu zu ordnen und Frieden durch Recht zu schaffen.

In seinem Eröffnungsplädoyer am 21. November, dem zweiten Verhandlungstag, sagte der US-amerikanische Hauptankläger, Robert H. Jackson: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.“
Das ist ein Gedanken, den wir niemals vergessen sollten: dort, wo Menschen Unrecht und Gewalt erleiden, wo das Recht durch Stärke gebrochen wird, überall dort steht die Zukunft unserer Zivilisation auf dem Spiel. Ihr Überleben braucht gestern wie heute mutige und wache Geister - gegen die Ungeister des ewigen Gestern.

Und wer will, der hört noch einmal die mahnenden Worte Robert H. Jacksons im November 1945: „Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.“

 

Gebet

Lasst uns in Frieden zu Gott beten:
um ein waches Gewissen,
um ein offenes und aufrechtes Herz,
um den Mut, Unrecht beim Namen zu nennen.

So rufen wir zu dir, Gott, und bitten
für alle, die heute leiden müssen,
die inmitten von Krieg und Terror leben,
für die Hungrigen und Unterdrückten,
dass ihr Elend und Kummer ein Ende habe,
dass sie satt würden, ungefährdet und frei leben könnten.

Bleibe du bei uns und bei deiner Welt, Gott,
mit deinem Wort und den Gaben deiner Güte.
Dein Reich komme.
Dein Friede werde unter uns.


 

Das Lied vom heiligen Umsturz- Zur 40. Friedensdekade 2020

 

„Umkehr zum Frieden“ Wer das diesjährige Motto der ökumenische Friedensdekade als Anforderung an das eigene Handeln hört, der weiß sogleich ein Zweites: wie mühsam diese Umkehr schon im Kleinen ist, wie oft sie guter Vorsatz und frommer Wunsch bleibt.

Wie anders klingt das Lied, das die schwangere Maria singt. Sie singt von einer Welt in anderen Umständen:

„Ich lobe den Herrn aus tiefstem Herzen.
Alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter.
Gott hebt seinen starken Arm und fegt die Überheblichen hinweg.
Er stürzt die Machthaber vom Thron und hebt die Unbedeutenden empor.
Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.“ (Lukas 1,46-55)

Rettung und Neuanfang, Gerechtigkeit und Frieden kommen hier aus der Kraft Gottes. Umkehr ist hier Umsturz, Umwälzung der Welt und ihrer Ordnungen, mit denen wir uns und andere so fein und säuberlich sortieren in die Muster von oben und unten, arm und reich, mächtig und machtlos.

„Wie gut, dass es Maria gibt“, schreibt der Journalist Heribert Prantl. Denn was sie sage, sei buchstäblich umwerfend, ihr Magnificat nicht weniger als ein Lied vom heiligen Umsturz. Maria sei, so Prantl, mit ihrer Art zu singen, vergleichbar den wuchtigen Gedanken des jungen Karl Marx. Auch dieser verlangte ja, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist“.  

Wo jedoch bei Marx für die Religion nur Kritik bleibt, da liegt für Maria der Anfang ihres Glaubens: in der Erwartung einer von Gott her endlich auf die Füße gestellten Welt, in der den Knechten die Freiheit versprochen ist, den Hungrigen Brot und den Niedrigen die Fülle des Lebens.

Wie gut, dass es Maria gibt! Ein Gedanke, der gut passt in diese 40. Friedensdekade mit ihrem Nachdenken darüber, wie uns und unserer Welt die Umkehr zum Frieden gelingen kann. Marias Lied ist ein Danklied, „es tut das, was alle wirkliche Frömmigkeit immer tut: Es lobt Gott. Es sagt Ja zum Leben, zum Glück und zu den Schmerzen. Es sagt Nein zur Unterdrückung und zum Hunger“ (Dorothee Sölle).

Es ist gut, dass sich unsere eigene Lust auf Veränderung, die Hoffnung auf eine neue Zeit an diesem Widerstandslied nähren kann.

Gebet

Hören wollen wir, Gott,
auf dein schönstes Wort:
Frieden - Schalom - Salam.
Zusammenstehen wollen wir
als Glaubende,
einander die Hand reichen,
über alle Grenzen hinweg
deinem schönsten Wort trauen.
Du, Gott, bist unser Friede.
Amen.


Zur 40. Friedensdekade geht es hier.


 

Die Welt gestern und heute - Zum Attentat in Wien

 

„Ich meinte, alles Furchtbare vorausgefühlt zu haben, was geschehen könnte, wenn Hitlers Hasstraum sich erfüllen und er Wien, die Stadt, die ihn als jungen Menschen arm und erfolglos von sich gestoßen, als Triumphator besetzen würde. Aber wie zaghaft, wie klein, wie kläglich erwies sich meine, erwies sich jede menschliche Phantasie gegen die Unmenschlichkeit, die sich entlud an dem Tage, da Österreich und damit Europa der nackten Gewalt zur Beute fiel!“

Diese Zeilen schreibt der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig in seinem Buch „Die Welt von Gestern“. Er blickt zurück auf das unvorstellbare Ausmaß an Terror, das die Nationalsozialisten über die Wiener Stadtgesellschaft brachten beim Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im Jahr 1938.

„Jetzt sank die Maske“, notiert Stefan Zweig über die Gewalt an jüdischen Mitbürgern und Andersdenkenden. Und weiter: „Damals war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglückseligen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen nun oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß …“

Wie nah ist diese Welt von gestern in den Erinnerungen Zweigs dem Geschehen von heute in den Nachrichten. Wir richten unseren Blick nach Wien, in jene wunderbare Stadt an der Donau, die zurecht so stolz ist auf ihre kulturelle und religiöse Vielfalt. Der Terror am gestrigen Abend mitten in der Wiener Innenstadt kam nicht von rechts. Er scheint religiös motiviert. Aber gestern wie heute ist das Erschrecken tief über das inhumane und brutale Vorgehen der Täter. Auch hier sinkt die Maske und der Hass zeigt seine Fratze.

Dass das Weltgewissen, auch unser eigenes, dazu nicht schweigt, nicht nur ein wenig murrt, ehe es vergisst, daran soll uns allen gelegen sein. Möge unser Wunsch und Willen zum Frieden nicht der Gewalt zur Beute fallen.

In einem Gebet zur Friedensdekade, die am kommenden Sonntag beginnt, lese ich folgende Gedanken: „Hören wollen wir, Gott, auf dein schönstes Wort: Frieden - Schalom - Salam. Umkehren zum Frieden wollen wir. Zusammenstehen als Glaubende, einander die Hand reichen über alle Grenzen hinweg. Deinem schönsten Wort trauen. Du, unser Friede, Gott.“

Heute Abend halten wir inne.Wir gedenken in der Stille der Toten und Verletzten in der Stadt Wien. Und dann lasst uns mit wachen Sinnen hören und bitten: „Dona nobis pacem! Gib uns Frieden, Gott!“


Den Kanon Dona nobis pacem hören Sie hier.


 

Was verbindet

Predigtgedanken zur Begrüßung des neuen Konfirmanden-Kurses nach Lukas 5

 

Eigentlich ist die Geschichte, die Lukas erzählt (Lukas 5,1-11), eine, die kaum Beachtung finden dürfte: ein Fischer, der mit leeren Netzen zurückkehrt. Das passiert, das ist Alltag: dass einer nichts fängt, leer ausgeht trotz allem Einsatz. Da lernt einer wie verrückt und es reicht doch nicht zur besse-ren Note. Oder es will einfach nicht so recht klappen mit der Liebe, den Plänen, dem Glück im Leben. Das ist ebenso und kaum der Rede wert.

Eigentlich eine Geschichte, die kaum Beachtung finden dürfte, aber eine kleine Begegnung macht den Unterschied. Denn am Ufer steht einer, der nachfragt und Mut macht: Habt ihr nichts gefangen? Dann fahrt noch einmal hinaus und werft eure Netze aus!

Jesus macht den Unterschied – und das wohl nicht, weil er mehr vom Fischen versteht als Simon, sondern weil er den richtigen Ton trifft, die Fähigkeit besitzt, neu zu motivieren, wo andere längst sagen: Das bringt doch eh nichts! Die Bibel erzählt: Der Fischer Simon fährt noch einmal heraus und als er zurückkommt, weiß er genau, was er will und was er tun wird: mit Jesus wird er gehen. Er will mehr erfahren von diesem Menschen, der schließlich sein Freund wird. Und er wird von ihm lernen, ganz neu von Gott zu denken und zu reden.

Eine kleine Begegnung macht den Unterschied, schafft Verbindung und entfaltet Kraft, ein ganzes Leben zu prägen. Ob auch ein Konfirmandenkurs das leisten kann? Das weiß ich nicht! Aber ich weiß etwas anderes ganz sicher: Dass euer Weg, ihr zwanzig neuen Konfinen und Konfis in St. Magni, auch mit einem ersten Schritt beginnt, mit der Bereitschaft, los-zugehen, und der Lust, etwas Neues auszuprobieren.

Das, was ihr miteinander erleben werden in den kommenden gut eineinhalb Jahre - in den Gottesdiensten, die ihr hier feiern und auch mitgestalten werdet, bei den regelmäßigen Kurstreffen im großen, ganz neu gestalteten Saal des Kinderschutzbundes, der uns viel Raum lässt zur Begegnungen „unter Corona“, in der Zeit, die wir miteinander verbringen werden, - all das braucht, damit es gelingen kann, eure Offenheit, einander zu zuhören.

Und es lebt vor allem von eurer Neugierde zu tun: Werden wir in den Themen, mit denen wir uns be-schäftigen, nur im Trüben fischen oder wird da etwas zu entdecken sein, das euch neu mit Gott verbinden kann und weiterträgt durchs Leben?

"Was verbindet" steht auf der Postkarte, die wir euch in die Gottesdienstzettel gelegt haben. Sie erinnert an den noch nahen Reformationstag und seine Botschaft, dass auch in Sachen Glauben die Begegnung mit anderen den entscheidenden Unterschied macht.

Wir Menschen brauchen einander gerade dort, wo die Fragen im Leben groß werden, den eigenen Horizont berühren und manchmal auch den Blick heben darüber hinaus. Unser Glaube lebt ganz wesentlich vom Hören auf die Standpunkte und Meinungen der anderen, von der Bereitschaft, gemeinsam Zugänge suchen zu unseren Bildern von Gott, zum Gebet, zur Gemeinschaft, zu den Fragen, wie wir hoffen und handeln können in einer unübersichtlichen, oft selbst-zerstörerischen Welt.

Der Fischer Simon jedenfalls fährt, von Jesus losgeschickt, nicht allein hinaus, er nimmt die Freunde mit. Gut so, denn als die Netze voll sind, da braucht er die helfenden Hände der anderen. Wie gut, dass sie zu vielen sind, die Netzen einzuholen, den Erfolg zu teilen können. Geteilte Freude ist immer doppelte Freunde! Wie schön, wenn es euch im Konfi-Kurs auch so ergehen könnte. Wie also kommen wir zusammen, Theo, Johan, Anouk, Maya, Florian, Sebastian, Jonathan, Mats, Collin, Mina, Mia, Manuel, Alina, Moritz, Ida, Kea, Mina, Kira, Ole und Carolin? Nun, lasst uns darüber reden! Amen.


 

Pandemie der Einsamkeit

 

Neben der Corona-Pandemie, die uns weiter in Atem hält, droht unserer Gesellschaft eine weitere Pandemie: die „Pandemie der Einsamkeit“. Davor warnt der Pädagoge und Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Die Zahl der Menschen, die fast ohne jeden zwischenmenschlichen Kontakt leben, sei größer, als man denkt - und sie wachse beständig.

Diese erschreckende Wahrnehmung bestätigen auch Caritas, Diakonie und Telefonseelsorge. Viele Anrufe, sagt ein Mitarbeiter der Telefonseelsorge, seien Ausdruck tiefer Einsamkeit von Menschen. Und der Zukunftsforscher Opaschowski ergänzt: In einer Gesellschaft längeren Lebens werde die größte Armut im Alter die „Kontaktarmut“.

Wer die Lebensumstände vieler ältere Menschen weiterdenkt, wird dem Forscher zustimmen: Einsamkeit wird, vor allem in den Städten, zu einem immer größeren Problem.  Ein wichtiger Grund dafür sind keine oder immer kleinere Familien, die zudem oft weit verstreut in Deutschland oder im Ausland wohnen.  Eltern und Kinder, Großeltern und Enkelkinder sehen sich oft nur noch selten und unter Corona oft lange Zeit gar nicht mehr.

Dazu kommt, dass es vielen Menschen nicht gut oder gar nicht gelingt, neue soziale Kontakte zu knüpfen und diese zu pflegen, was wiederum in Städten noch schwerer fällt als in Dörfern. Daraus ergibt sich ein gefährlicher Zirkelschluss: Je einsamer man sich dann fühlt, desto weniger wagt man, unter Leute zu gehen. Und wird dadurch noch einsamer.

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt, heißt es gleich am Anfang der Bibel. Gott sagt diesen Satz mit liebevollem Blick auf den Menschen, der als Beziehungs- und Begegnungswesen geschaffen ist.  Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt! Dieser Satz gilt seit Adam und Eva nicht nur für Paare. Er gilt für alle Menschen. Und er sollte an jedem Mietshaus stehen, über jedem Vereinsheim und natürlich an unseren Kirchen und Gemeindehäusern.

Leider gibt es kein überall gültiges Rezept, wie man Menschen in Gemeinschaft bringt. Aber es gibt ein gutes Hilfsmittel, über das wir alle verfügen. Es ist unsere eigene Achtsamkeit. Sie ist wertvoll und hilft zweifach: Wenn ich auf Menschen achte, die vielleicht vereinsamen, bleibe ich interessiert. Das ist das Eine. Das Andere ist: Solange mich Menschen in meiner Nähe interessieren, vereinsame ich selber nicht, sondern pflege meine sozialen Netze.

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt! Wachsende Einsamkeit betrifft uns alle. Die Achtsamkeit für Menschen auch. Geben wir gemeinsam darauf acht, dass niemand verloren geht.


 

Der große Diktator

 

Vor achtzig Jahren, im Oktober 1940, kommt in Amerika der Film „Der große Diktator“ in die Kinos. Der Komiker Charlie Chaplin parodiert darin Adolf Hitler und zeigt seinem Publikum, was der Führer von Nazi-Deutschland für ihn in Wahrheit ist: ein Gernegroß in Uniform.

In einer Szene findet Hynkel, wie Hitler im Film heißt, eine große Weltkugel. Er spielt mit ihr wie mit einem Luftballon, tanzt um sie herum, wirft sie hoch, umarmt sie, traktiert sie solange, bis sie schließlich platzt. Die Botschaft ist klar: Der größte Feldherr aller Zeiten ist ein Narr, dessen gefährliches Spiel die Welt zerstören kann.

Wie vor achtzig Jahren ist Chaplins „Großer Diktator“ auch heute noch ein sehenswertes Lehrstück über die Kraft des Humors gerade in Zeiten der eigenen Ohnmacht. Charlie Chaplin, der kleine Mann aus London, wagt es, den großen Führer herauszufordern. Er tut es, indem er ihm mit Humor begegnet.

Beim Theologen Helmut Thielicke lese ich dazu einen treffenden Gedanken: Der Humor sei wie der Glaube eine Seelenhaltung, ein innerer Widerspruch gegen alles, was in dieser Welt mit letztem Ernst nach uns Menschen greift und Macht über uns haben will.

Wer lacht, der tritt einen oder zwei Schritte von der Ernsthaftigkeit der Welt zurück und sieht sie unter der Perspektive ihrer Vorläufigkeit. Das Fernrohr der Lebens- und Weltbetrachtung wird sozusagen umgedreht, so dass das scheinbar Große und Imposante plötzlich viel kleiner und harmloser aussieht. Nicht selten verliert das Bedrängende dadurch etwas von seinem Schrecken, weil es zurechtgestutzt wird auf seine wahre Größe. Und die ist oft eher lächerlich klein.

Wer Humor hat, geht nicht unter. Wer noch lachen kann, ist nicht nur ohnmächtig. Charlie Chaplin konnte diese innere Haltung wie kein zweiter verkörpern: Manchmal steht er da mit Melone und Spazierstock, den ausgelatschten Schuhen und dem kleinen Bärtchen und sieht aus wie ein Verlierer. Aber er verliert nicht, geht nicht unter, gibt nicht auf. Sondern lacht über den Größenwahn seiner Zeit und wehrt sich gegen ihn mit Humor.

Dort, wo ich am Zustand unserer Welt eigentlich nur verzweifeln kann, will ich mir das gesagt sein lassen: Wer die Welt ernst nehmen will, darf sie nicht zu ernst nehmen. Und das gilt auch im Blick auf die eigene Person. Wer humorvoll von sich selbst absehen kann, der hat freien Blick auf das, was unser Leben im Letzten begründet und trägt.


Am 14. Oktober 1944, vier Jahre nach der Premiere von Chaplins "Der große Diktator", wurde die Stadt Braunschweig durch Fliederbomben großflächig zerstört.


 

Wie man Menschen glücklich macht

Man kann Menschen glücklich machen: Kinder und Erwachsene. Und das ist gar nicht so schwer, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. Denn glücklich wird, wer so sein darf, wie er ist!

Der bekannte Wissenschaftler sagt das zunächst über Eltern im Gegenüber zu ihren Kindern. Aber ich finde, wir dürfen diesen Gedanken ruhig viel grundsätzlicher hören für den Umgang von Menschen untereinander: Man wird glücklich, wenn man sein darf, wie man ist.

Oft machen wir Menschen es leider anders. Wir sagen zu unseren Kindern oder Enkeln: „Natürlich haben wir dich lieb, aber bitte: Zieh dich doch anders an; träum‘ doch nicht so viel; sorge für ein gutes Zeugnis.“ Das bringt oft eher Unzufriedenheit als Glück hervor. Auch Erwachsene können das gut, dieses Ansprüche Stellen aneinander.

Gerald Hüther mahnt: Menschen empfinden heute so viel Druck und erleben so viele Ansprüche von allen Seiten, dass es oft eine große Befreiung sei, wenn man sein darf, wie man ist:  Kinder, die noch spielen dürfen; Erwachsene, die nicht immer von anderen erzogen werden; kleine und große Menschen, die sich nicht fortlaufend gegenüber anderen behaupten müssen.

Im Grunde ist das schon eine alte biblische Einsicht. Kurz und bündig formuliert lese ich sie in Psalm 139: „Ich danke dir, Gott, dafür, dass ich so wunderbar gemacht bin!“ Für mich ist das einer der schönsten, weil ermutigendsten Bibelsätze überhaupt: Vor jedem „Du musst“ steht bei Gott das „Du bist“: angenommen und wertgeschätzt mit deinen starken Seiten und schwachen Momenten, deinen Möglichkeiten und dem, was dir unmöglich ist.

In biblischer wie neurologischer Hinsicht gilt: Es macht uns Menschen glücklicher, wenn wir empfinden: Ich darf sein, wie ich bin! Und ich kann doch jeden Tag anders, vielleicht auch besser werden. Aber eben nicht unter Druck oder weil die Liebe anderer davon abhängt.

Das allein schon ist Glück: Zu wissen, man genügt!


Dieser Beitrag wurde am Samstag, 10. Oktober, in der Braunschweiger Zeitung veröffentlicht.


 

Bitte hinhören beim Earth Speakr!

 

Mit dem Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ging er im Juli online: der „Earth Speakr“, ins Deutsche frei übersetzt: der Erd-Lautsprecher. Er ist ein digitales Kunst- und Kulturprojekt. Der dänischen Künstlers Olafur Eliasson hat es im Auftrag der Bundesregierung erdacht.

Seine Idee des „Earth Speakr“ einfach und groß zugleich: Mit Hilfe einer kleinen digitalen Anwendung sollen Kinder und Jugendliche ihre Wünsche und Vorstellungen zum Klima, der Welt und Politik spielerisch artikulieren und so ihrer Hoffnungen für die Zukunft Europas und des Planenten Erde erzählen.

Denn, so sagt es Olafur Eliasson, selbst Vater einer Tochter: „Kinder sind Experten. Wir sollten uns an sie wenden, uns von ihrer Vorstellungskraft inspirieren lassen, ihnen wirklich zuhören und von ihnen lernen.“

Den Kleinen eine Stimme! Das ist ein Gedanken, der auch der Bibel wesentlich ist. An nicht wenigen Stellen dieses großen Glaubensbuches hat Gott gerade ein Ohr für die kleinen Leute, oder wie die Bibel sagen würde, die Geringen. Das ist so, weil sie vor allem wissen, was es bedeutet, kein Recht und keine Stimme zu bekommen, wie es sich anfühlt, wenn Zukunft und Hoffnung mit Füßen getreten werden.

Vom Gott der kleinen Leute etwa singt die schwangere Maria ein Loblied, das unter die Haut geht und das Herz berührt: von Gott, der die Gewaltigen vom Thron stößt, die Gierigen in die Schranken weist und die Niedrigen erhebt, damit alle in Recht und Gerechtigkeit leben können.

Aus dem Erd-Lautsprecher lässt Olafur Eliasson derweil Kinder und Jugendliche aus allen 24 EU-Ländern zu Wort kommen. Und das auf eine wirkliche kreative Art und Weise: Sie sprechen ihre Wünsche und Ideen für eine lebenswerte Zukunft per Telefon ein und filmen dazu einen Gegenstand, der ihre Botschaft weitersagen soll.

Und so erzählen nun Steine, Bäume, Strohballen, Straßenwegweiser und Plastikflaschen davon, was Kinder und Jugendliche sich wünschen mit Blick auf unseren Lebensraum Erde. Der „Earth Speakr“ wird so zu einem kleinen, aber feinen Lehrstück über die Hoffnung auf ein lebenswertes Morgen.

Darum, liebe Mit-Große: Der Zukunft zuhören und dann weitersagen, was uns in Herz und Verstand erreicht hat.


Hören Sie der Zukunft zu auf https://earthspeakr.art/de/


 

Nachdenken über das gute Leben

 

Wie es war, wird es nicht wieder! Diesen Satz hört man jetzt häufiger. Oder auch diesen: Es muss sich etwas ändern! Gemeint ist die Zeit nach Corona. Es wird nicht wieder normal, sagen die einen. Und andere ergänzen: Wir müssen etwas ändern! Aber was?

Darüber hat der Bonner Philosoph Markus Gabriel nachgedacht und ein Buch geschrieben. Sein Titel lautet: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Untertitel: Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Leidenschaftlich erinnert der Philosoph darin an die Zeit der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also jenen denkerischen Aufbruch des Menschen aus seiner Unmündigkeit mit der Kraft seines Verstandes.

Einen eben solchen Aufbruch brauche es auch jetzt, fordert Markus Gabriel. Man müsse anders, vor allem gemeinsam denken. Denn die Corona-Pandemie zeige, dass ein Virus nicht zwischen nah und fern unterscheidet, dass wir wirklich eine Welt sind und dass die Zukunft dieser einen Welt gemeinsame Aufgabe aller ist. Darum brauche es, so der Philosoph, eine neue Aufklärung, eine Ethik für alle unabhängig von Schulform und Bildungsgrad, unabhängig von Religion, Herkunft, Vermögen, Geschlecht oder persönlicher Meinung.

Wie es war, wird es nicht wieder! Für den Philosophen beginnt der erste Schritt in die Zukunft mit dem gründlichen Nachdenken über gutes Leben mit sich und anderen. Denn, so schreibt er: „Ziel und Sinn des menschlichen Lebens ist das gute Leben.“ Und um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir aufrichtiges Nachdenken über alle Fragen, die Menschen bewegen. Mit schnellen Lösungen ist es nicht getan in Fragen des Klimas, von Armut und Reichtum oder der zunehmenden Alterung unserer Gesellschaft.

Die Menschheit als weltweite Schicksalsgemeinschaft: Das ist für mich ein starkes Bild. Und mir gefällt der Gedanke, dass etwas von der Zukunft dieser Welt auch in meinen Händen liegt; dass uns Menschen durch gemeinsames Nachdenken nachhaltige Entwicklung und heilsamer Fortschritt gelingen können; gerade in dunklen Zeiten, in denen für viele oft erst das eigene Fressen kommt und dann die Moral.

Mein Glaube lehrt mich einen anderen Satz. Er lautet: Wir müssen keine ethischen Analphabeten bleiben! In jeden von uns ist schöpferische Kraft gelegt ist, das Gute zu suchen und zu tun.

Glaube und Ethik, moralische Überzeugung und praktisches Handeln sind nie getrennte Größen, sondern immer zwei untrennbare Seiten des einen guten Lebens. Und dieses Leben wird vor allem dadurch gut, dass es niemals für sich bleibt, sondern immer über sich hinaus will - hin zu Gott und zu den Nächsten.


 

Übung in Dankbarkeit

 

Die Theologin Dorothee Sölle hat es einmal als eine geistliche Übung bezeichnet, am Tag drei Dinge zu finden, für die man Gott danken kann. Sie schreibt: „Drei Dinge sind manchmal ganz leicht. Und an anderen Tagen fällt es sogar schwer, einen einzigen Grund zum Danken zu finden. Probieren Sie es doch einmal aus!"

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ (Psalm 103,2)
Eine Kollegin schreibt davon, wie sie dieses bewusste Danken in einer persönlichen Krisenzeit regelrecht trainiert habe. Jeden Morgen sei sie damals zum Laufen aufgebrochen und habe sie sich dabei überlegt, wofür sie gerade dankbar sein kann. Und wenn sie etwas gefunden hatte, habe sie laufenderweise nach einem kleinen oder größeren Stein gesucht. Den trug sie dann so lange mit sich, bis sie ihn mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung abgelegte mit einem Moment des Innehaltens und Dankens. Es sei mit der Zeit ein richtiger Danke-Steinkreis geworden. Als sie nach einem Jahr, längst war die Krise überstanden und ein neuer Lebensort gefunden, auf die Waldlichtung zurückgekehrt sei, da habe sie das, was sie dort sah, bewegt: Andere Menschen hatten ihre Steine entdeckt und daraus auf dem Waldboden ein großes Herz gelegt. Erst da habe sie gemerkt, wie sehr sich durch das tägliche Danken etwas in ihrem Herzen verändert habe.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
Nicht alles, was uns widerfährt, erscheint uns dankenswert. Im Gegenteil: Es gibt Geschehnisse, die wir oft nicht verstehen. Und es gibt eigentlich immer irgendwo die Angst, es könnte nicht reichen, die Sorge, wir schaffen es nicht, wir sind zu wenige, die Kraft ist zu klein, die Probleme zu mächtig. Aber meine eigene Erfahrung ist: Wenn ich mich trotz dieser Dinge entscheide, mit dem Danken zu beginnen, öffnet sich oftmals eine unsichtbare Tür und ich werde zu einer neuen Sicht auf die Dinge befreit. Mein Blick ändert sich: weg von mir, von meinem Mangel und meinen Unmöglichkeiten, hin zu den Menschen, die mir in alldem hilfreich zur Seite stehen. Und zu Gott, zu seinen Gaben und Möglichkeiten, mit denen er hier und dann auch ewig für mich sorgen will.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“


 

"Bitte abstauben!"

 

Viele Jahre lang staubte es einfach vor sich hin und nun ist es plötzlich kostbar geworden: das Gemälde „Porträt einer Dame“. Über Jahrhunderte meinte man, es sei von einem Schüler des genialen flämischen Malers Peter Paul Rubens (1577-1640) gemalt worden und deswegen von nur geringerem Wert.

Jetzt aber hat man vorsichtig und gründlich den Staub und die Patina vom Bild entfernt und genau hingesehen. Und siehe da: Die Experten sagen, es sei vom Meister Rubens selbst: Ein kostbares Gemälde haben lange unentdeckt vor sich hin gestaubt.

Den Besitzer, der ungenannt bleiben will, wird es freuen. Er hat das Bild vor Jahren für ein paar Tausend Euro gekauft und will es nun in London versteigern lassen. Versehen mit den neuesten Gutachten, wird ein Erlös von um die drei Millionen Euro erwartet. Ein gutes Geschäft, oder? Nur weil man mal gründlich abgestaubt hat!

Eine feine Geschichte mit tieferem Hintersinn, meine ich. Denn manchmal ist es ja so, dass etwas Jahre oder Jahrzehnte unerkannt oder unbeachtet bleibt, aber unter dem Staub des Vergessens doch seinen wertvollen Glanz behält.

Ich muss dabei an die vielen Bibelverse denken, die wir Menschen uns an besonderen Wegmarken unserer Lebensgeschichten auswählen und ganz wörtlich ins Stammbuch schreiben lassen: oftmals mit großer Sorgfalt ausgesuchte Worte, die das Neue, das mit ihnen beginnt, deuten und dann mit uns gehen sollen: der eigene Konfirmationsspruch, den Jugendliche sich wählen, der gemeinsam gesuchte Trauspruch, die Taufsprüche der Kinder und schließlich auch die letzten Worte im Abschied an den Gräbern gesprochen.

Viele Menschen tragen solche Bibelworte mit sich auf Urkunden oder in Familienbücher geschrieben. Häufig sind sie stille Wegbegleiter, die dann und wann in Gedanken hervortreten, abgestaubt und erinnert werden wollen: „Ach ja, so war das!“ Und oftmals ist mit diesen Bibelworten ein besonderes Gefühl verbunden: von anderen bedacht worden zu sein, die uns gut waren so, wie Gott uns gut ist.

Eine Pfarrkollegin, inzwischen hochbetagt, erzählt bei einem Besuch von „ihrem“ Bibelwort. Es hat sie fast durch ein ganzes Jahrhundert begleitet und steht im 73. Psalm: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an.“ Sie sagt das Wort auswendig auf und wir schweigen danach. Es ist alles gesagt. Und ich merke: Dieses Wort ist kostbarer als alles, was man für Geld erwerben könnte!


 

"Beziehungsweise glücklich"

 

Wie werden wir Menschen eigentlich glücklich? Diese Frage gehört zum Menschsein dazu. Und sie wird in diesen Corona-Zeiten häufiger gestellt; vielleicht nicht immer laut, dafür aber sehr eindringlich: Was macht mich glücklich? Was brauche ich, um glücklich zu sein?

Maren Urner, Professorin für Medienpsychologie in Köln, hat dazu unlängst einen Aufsatz geschrieben. Kritisch und skeptisch bewertet sie darin die vermeintlichen Glücksgaranten wie Geld, Aussehen oder Ansehen. Sie machen alleine nicht glücklich!

Zum Schluss ihrer Ausführungen verweist die Professorin auf eine Studie über „Das Glück im Leben“, die seit dem Jahre 1938 an der amerikanischen Harvard Universität läuft. Die Studie ließe sich, schreibt sie, in einem Satz zusammenfassen; und der laute: Nicht Ruhm, nicht Geld, nicht Intelligenz und nicht unsere Gene sind der wichtigste Anlass zum Glück, sondern „gute menschliche Beziehungen“.

Gute Beziehungen machen glücklich! Wer möchte, der erinnert sich mit diesem Satz an die Seligpreisungen Jesu im Neuen Testament. „Selig sein“ ist ja so etwas wie absolutes "glücklich sein". Selig sein meint einen Glückszustand, der uns nicht genommen werden kann. Das erfährt man oft in Beziehungen, wie Jesus sagt: Indem wir barmherzig sind mit uns und anderen; oder sanftmütig (was nicht verwechselt werden darf mit Schwachheit!); indem wir Frieden stiften, auch wenn wir dafür vielleicht ein Opfer bringen müssen, und nach Gerechtigkeit streben gerade für die, die vielleicht schon verstummt sind in ihrem Unglück.

Auch die Beziehung zu Gott nimmt Jesus in den Blick und denkt sie wie eine Beziehung zu Menschen: ein reines Herz hat Augen für Gottes Willen und kümmert sich im Leben nicht nur um sich selbst. Soweit die Seligpreisungen Jesu in aller Kürzen.

Wenn stimmt, was die Havard-Studie seit 1938 herausgefunden hat, nämlich dass unser Glück im Leben vor allem mit unseren gelingenden Beziehungen zu tun hat, dann sind die Seligpreisungen Jesu zweierlei: eine Einladung und eine Anleitung, unser Glück mit anderen zu gestalten.

Und wenn wir selber einmal Leid tragen sollten, dann dürfen wir darauf hoffen, getröstet zu werden. So verspricht es Jesu. Denn der Himmel sorgt für die, die anderen zum Glück verhelfen!


 

"Einfach zauberhaft"

Manchmal muss man die Welt einfach verzaubern. Wie zum Beispiel die Stadt Augsburg. Die hat sich etwas Wunderbares einfallen lassen. Es gibt da ein Neubaugebiet, gerade für junge Familien, das braucht auch Straßennamen. Da beschließt die Stadt, Straßen nach Stücken der Augsburger Puppenkiste zu benennen. Es gibt dort bald eine „Jim-Knopf-Str.“, einen „Lukasweg“ und natürlich auch einen „Emmaweg“ wegen der Lokomotive. All das sind Namen aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“, von Michael Ende (1929–1995). Von ihm sind auch die Romane „Momo“ und „Die unendliche Geschichte. Das Kinderbuch von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, wird in diesem Jahr sechzig Jahre alt und wurde richtig berühmt durch die Verfilmung mit der Augsburger Puppenkiste – und die Stadt Augsburg hat jetzt einen Zauber mehr.

Da stelle ich mir natürlich gleich vor, ich wohnte in der „Jim-Knopf-Str.“ oder der „Lummerlandstr.“ und müsste immer lächeln, wenn ich das jemandem sage oder schreibe. Oder jemand schreibt mir und lächelt, weil er sich an die Insel mit den zwei Bergen erinnert und an die Figuren mit ihren Abenteuern und der großen Menschlichkeit. Oder wir erinnern uns an den oft etwas gelangweilten, aber gütigen König „Alfons der Viertel-vor-Zwölfte“, geboren einst um Viertel vor Zwölf, der nur zwei Untertanen hat und die auch gelegentlich mit seinem goldenen Telefon anruft oder ihnen zuwinkt. Sonntags schenkt er ihnen ein Eis.

Wir brauchen solchen Zauber. Etwas Glitzer in der Welt. Es wird ja viel über Geld gesprochen und über manches Elend. Es ist auch wichtig, dass die Nachrichten uns darüber ins Bild setzen. Aber dann kommen Momente, in denen es auch andere Bilder geben muss, in denen es einen Zauber und reiche Fantasie geben muss: ein schöner Film; das Lieblingslied, viele Male hintereinander gehört oder ein Buch über Menschlichkeit und Liebe. Etwas, das uns zu Tränen rührt. Zu Freudentränen. Da geht das Herz auf. Das muss es auch. Das Herz soll uns manchmal aufgehen vor Wärme und Fürsorge.

Ihr seid das Licht der Welt, sagt Jesus (Matthäus 5,13+14); und: Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid Würze und Licht in der Welt; nicht immer – aber ihr könnt es sein als von Gott behütete Menschenkinder. Man muss ja nicht immer nachtragend sein oder viel jammern oder nur aschgrau dreinblicken. Es geht auch gütig.

Wer manchmal in sich geht und sich selber einen kleinen Spiegel vorhält, könnte spüren: Vieles geht womöglich auch etwas gütiger. Wir können ein wenig leuchten und die Welt verzaubern. Mit ganz viel Herz.


Gedanken vom Pfarrer und Autor Michael Becker, Kassel.


 

Beziehungsforschung

 

Welche Paare bleiben eigentlich zusammen? Und welche werden sich trennen? Das sind Fragen, denen die Psychologin Christine Finn nachgeht. Sie wertet zurzeit an der Universität Jena eine großangelegte Partnerschaftsstudie aus. Sieben Jahre lang haben Forscher gut 2000 Paare begleitet und zu ihrer Beziehung befragt.

Eine erste Erkenntnis lautet: Wichtig für stabile, alterungsfähige Beziehungen sind gemeinsame Interessen. Auch in politischen Fragen und Wertvorstellungen hilft eine mehr oder weniger große Übereinstimmung, wohingegen charakterliche Temperamente durchaus verschieden sein dürfen. Das klingt nachvollziehbar.

Interessanter ist eine zweite Erkenntnis: Der kritische Punkt in Beziehungen sei oft die Kommunikation. Menschen halten ihren Frust zurück oder nehmen einfach an, dass beim Partner bestimmte Meinungen vorherrschen. Jeder kennt die Schubladen, in die wir uns und anderen stecken, oder?

Dagegen betont die Forscherin: „Man muss sich fragen: Was möchte ich eigentlich? Was ist mein Bedürfnis? Und wie erlebe ich die Beziehung gerade? Und dann muss man dem Partner die eigenen Vorstellungen klarmachen, ihm aber auch die Möglichkeit einräumen, darauf zu reagieren.“

Denn: Was für mich gut ist und gelten soll, das soll auch anderen zustehen. Wo dieser Grundsatz im Miteinander befolgt wird, da stehen Beziehungen auf festem Boden.

Vielleicht geht es Ihnen jetzt auch so, wie mir: Ich erkenne in dieser wissenschaftlichen Erkenntnis ein altes biblisches Gebot wieder. Es sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Ich mag dieses Bibelwort. Und ich verstehe es so: Gewähre deinem Gegenüber, deinem Liebsten oder deiner Liebsten, immer das, was du selbst zum Leben brauchst. Dazu gehört der achtsame und respektvolle Umgang miteinander ebenso, wie das Wissen darum, dass jede Wahrheit immer mindestens eine zweite Seite hat.

Die Psychologin hat recht: Das alles sind Dinge, die wir in unseren Beziehungen täglich trainieren können.


 

"Was uns lebendig hält"

Endlich darf Walter seinen Freund wieder besuchen. Natürlich unter Auflagen, denn dieser lebt in einem Seniorenwohnheim. Die Zeit war lang, in der die beiden sich nicht sehen durften. Viele ältere Menschen und ihre Angehörigen haben darunter gelitten.

Jetzt geht es an vielen Orten wieder. Und an manchen hat man kreative Ideen dazu: In Frankreich zum Beispiel, so berichtet eine Zeitung, stehen nun kleine Zelte im Garten eines Seniorenheimes. Hier können Familien ihre Angehörigen besuchen. Dann braucht man nicht durchs ganze Haus zu gehen und ist zugleich vor Wind und Wetter und den Blicken anderer geschützt.

In Frankreich und auch hier in Braunschweig: Endlich kann man sich wieder in die Augen sehen, endlich lächelt man sich wieder an und hört dabei, was der andere sagt. Wie sehr haben Menschen das vermisst. Es ist noch nicht alles wie früher, aber es gibt erste vorsichtige Schritte. Wir können einander wieder zeigen: Wir haben uns nicht vergessen!

Es gibt ja Menschen, die sagen: Ich brauche niemanden! Hoffentlich sagen sie das nur und glauben es nicht auch noch. Denn das wäre ein schwerer Irrtum! Jeder und jede braucht Freunde und Vertraute im Leben. Es müsse nicht viele sein, aber es sollen Menschen sein, die auf uns achtgeben, die anrufen und nachfragen oder nach dem Rechten sehen. In den vergangenen Corona-Wochen war das vielfach zu erleben: wie Menschen sich umeinander kümmern. Und so vorleben, was niemand vergessen sollte: Dass wir Menschen keine Insel sind, sondern andere zum Leben brauchen.

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Diesen Gedanken Gottes überliefert die Bibel im ersten Mosebuch und erzählt dann in wunderbaren Bildern davon, wie Gott den Menschen als Beziehungswesen schafft. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Ich höre das so: Wir Menschen sind füreinander bestimmt. Wir brauchen einander, mal etwas weniger, mal viel mehr. Wir brauchen Menschen, die auf uns achtgeben und sich um uns sorgen. Das hält uns lebendig.

Auch Walter wird nun bald seinen Freund im Seniorenheim besuchen. Die Zelte im Garten sind aufgebaut. Es gibt so viel zu erzählen, sagt er. Und Gott danken wollen sie dafür, dass sie einander haben und sich nun wiedersehen dürfen. Endlich!


 

"Wir sind gesehen!"

Ein Klassenzimmer, kurz nach Stundenschluss. "Glauben Sie an Gott?", fragt der Schüler mit leiser Stimme. Es ist eine unbelauschte Sekunde. Sonst wäre er wohl mit den anderen sofort in die Pause herausgetollt. Aber diesmal war die Physikstunde zum Nägelbeißen spannend gewesen.

"Glauben Sie an Gott?" Der Lehrer streift seinen Schüler mit einem Blick, wie um zu prüfen, ob die Frage ernst gemeint wäre. Dann tritt er ans Fenster und schaut hinaus. "Wenn, wie Sie sagen", setzt der Junge nach, "wenn da oben wirklich so ein gewaltiges Kräftespiel tobt, wenn schwarze Löcher alles Licht einsaugen, wenn Sterne explodieren und Gravitationswellen hundert Milliarden Galaxien durchrütteln ... Wie kann man da noch an einen Erdengott glauben?"

Ohne den Blick zu wenden, hebt der Lehrer an: "Vielleicht stellen wir uns Gott nicht groß genug vor. Vielleicht erzählen uns die Himmel von seiner wahren Größe. Vielleicht ist Gott größer als das All. Und alles, was sich ausdehnt, lebt und weitet, das bewegt sich mit seinem Atem. Vielleicht wachen wir gerade auf und bekommen eine unfassbare Weite zu sehen. Mit jeder Erkenntnis, die die Astrophysik hervorbringt, wird mir dieser Gott geheimnisvoller, ehrfurchtgebietender."

Der Junge braucht eine Weile, bis sich dieses Bild in ihm aufbaut: Gott, so groß, dass ein sich ausbreitendes All in IHM Raum hat! Gott als Raum der Welten, in dem sich Endlosigkeit zu Orten und Ewigkeit zu Zeit und Geistesgegenwart verdichten! Die Sekunden verstreichen, dann sagt er: "Glauben Sie an so einen Gott?"

"Glauben", sagt der Lehrer, das Wort wiegend, "ich würde eher sehr sagen, ich bin tief beeindruckt. Ich begreife nicht, wie es IHM möglich ist, so groß zu sein und zugleich so klein, um uns auf dieser Erdmurmel hier in die Augen zu schauen. Ich glaube, die Generationen vor uns haben wirklich recht gehabt: Wir sind gesehen. Zuweilen spüre ich seinen Blick. Und der Gedanke geht mir durch und durch: Auch ich bin gesehen!" Amen.


 

"Offene Arme, weites Herz"

Eine Woche habe sie geweint, erzählt Gabrielle einem Fernsehsender in den USA. Gabrielle wohnt in Memphis, im Bundesstaat Tennessee.
Reichlich Tränen flossen, weil ihre Hochschule alle Feiern zum Studienabschluss abgesagt hatte – wegen Corona! Keine Feier, kein Beifall, keine schwarzen Hüte als Zeichen der Reife. Das Abschlusszeugnis kam schmucklos per Post. Das war schlimm, sagt Gabrielle. Blödes Corona!

Ihr Vater kann die Tränen nicht lange mit ansehen. Dann hat er eine Idee: Er baut eine Bühne in den Garten. Dort wird seine Tochter gefeiert. In festlichen Kleidern. Mit allen Nachbarn und Freunden. Natürlich mit Abstand und Masken, aber die Tochter ist selig.

Eine Geschichte mit gutem Ende, die davon erzählt, dass Corona das Leben kräftig durcheinanderwirbelt. Auch in unseren Schulen sind die Abi-Bälle abgesagt. Und Konfirmationen werden in diesem Jahr ganz anders sein als geplant. Das passt nicht allen. Da gibt es Diskussionen und manchmal auch Ärger und Tränen.

Und mittendrin gibt es Familien, die merken: Es ist gar nicht leicht, sich in den Rollen von Eltern und Kindern zurecht zu finden. Viele Familien erleben sich zurzeit im Ausnahmezustand, wie auf dem Drahtseil zwischen Schule und Beruf, Aufgaben und freier Zeit, die gestaltet werden will. Für viele gilt: Ja, Familie ist ziemlich anstrengend!

Und sie ist auch ein großes Glück! Wenn das Miteinander gelingt. Wenn Eltern zuhören können und Kinder Rücksicht nehmen. Wenn Stress und Ärger nicht unterm Teppich landen, sondern alle in der Familie aufrichtig miteinander umgehen. Wenn die Arme offen und die Herzen weit bleiben!

Eine meiner liebsten Bibelgeschichten ist eine Familiengeschichte. Jesus erzählt sie von einer Familie, deren Rollen und Erwartungen heftig durcheinandergeraten: Da ist ein Kind, das unbedingt von zuhause fortgehen will, die Welt und ihre Möglichkeiten entdecken. Dazu fordert und erhält es einen beträchtlichen Teil des Familienvermögens und zieht davon. Im Laufe der Zeit aber verirrt sich das Kind in der Welt der Vielfalt und Möglichkeiten. Und merkt es nach Jahren und will wieder heim.

Und daheim? Da hört das Kind keinen Vorwurf, nicht einen! Dafür erlebt es offene Arme und weite Herzen. Einfach zu göttlich, denken Sie? Ja, genau! Denn Jesus sagt: So ist das auch bei Gott. Sein Herz ist weit und seine Freude groß über jedes Menschenkind, das zu ihm findet mit allem, was auf einem Herzen lasten kann. Der Weg dorthin ist nicht immer leicht, aber wenn er gegangen ist ein großes Glück!


 

"Ein Genie an Demut"

Es ist das Jahr 1936, Sommer in Ostende in Belgien. Zwei ungleiche Freunde treffen sich, beide sind Österreicher, Schriftsteller, die vor den Nationalsozialisten geflohen sind, beide in der Heimat mit Schreibverbot belegt, ohne die Erlaubnis, dass ihre Bücher weiter gedruckt und verkauft werden.

Der eine der beiden Freunde ist Stefan Zweig, als Schriftsteller bereits zu Ansehen und Vermögen gekommen, weil seine Bücher noch überall sonst in der Welt verkauft werden. Der andere ist Joseph Roth, bettelarm im Exil, weil er wenige Bücher verkauft und viel Geld braucht für die Pflege seiner kranken Frau und den Genuss von zu viel Alkohol.

Im belgischen Ostende treffen die beiden Freunde im Sommer 1936 aufeinander. Stefan Zweig, so wird er-zählt, führt seinen Freund Roth, dessen Kleidung ärmlich aussieht, zu einem Schneider, der Roth eine neue Hose schneidern soll.
Am folgenden Tag trägt Joseph Roth seine neue Ho-se, dazu aber seine alte, zerschlissene Jacke. Im Café bestellt er drei Gläschen Likör – und schüttet diese über seiner alten Jacke aus. Was machen Sie da, wird er gefragt. Und Roth sagt: So sind sie, die Millionäre. Führen sie uns schon zum Schneider, so vergessen sie, uns zu den Hosen auch eine neue Jacke schneidern zu lassen! Drei Tage später lässt Stefan Zweig, dem das zu Ohren gekommen war, seinem Freund eine neue Jacke anfertigen. Dabei sagt er: Roth ist ein Genie!

Ein merkwürdiges Genie, dachte ich mir beim Lesen dieser Anekdote. Ein Genie der Demut, könnte man auch sagen. Denn Joseph Roth soll sehr stolz darauf gewesen sein, dass er sich gegenüber seinem vermögenden Freund nicht nur demütig gezeigt hat. Genauer: nicht zu demütig.

Demut braucht, so verstehe ich es, immer einen Rest an Stolz, an Eigenwert und Würde. Demut ist niemals Unterwerfung, sondern behält aufrechte und wache Sinne für die eigene Lage und die Hilfe anderer darin. Demut lehrt uns, vor anderen nicht in den Staub zu versinken und doch aus tiefstem Herzen für ihre Hilfe dankbar zu sein.

Gebet

Du, Gott, lässt dich nicht täuschen von schönen Fassaden. Du kennst die Wahrheit, die wir manchmal selbst nicht wahrhaben wollen. Wir bitten dich: Löse uns gnädig aus unserer Selbsttäuschung und gib uns den Mut zu echter Demut und zu gesundem Stolz. Amen.


 

"Geist für jetzt" Gedanken nach dem Pfingstfest

Jan Vogler, ein fantastischer Cellist, sagte gestern im Radio-Café, er könne nicht für die Gestrigen spielen oder so musizieren, wie man vielleicht in zehn Jahren einmal hören wird, er spielt jetzt, für die Menschen jetzt – denn er ist nicht Komponist, sondern Interpret.

Das könnte auch ein Merksatz fürs Bibellesen sein. Jetzt lesen, hier und heute darauf hören, was die Bibel sagt, so wird sie – genauso wie die Musik – lebendig. Und überraschend aktuell, wie diese Verse aus dem Johannesevangelium:

„Am Abend aber waren die Jünger versammelt und hatten die Türen verschlossen  aus Furcht vor den Juden. Da kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!“

Da sitzen sie also in geschlossenen Räumen, verbarrikadiert, in Quarantäne und haben schreckliche Angst. Sie haben eine Schockerfahrung hinter sich. Sie trauen sich nicht raus. Sie fürchten sich. Und wissen nicht weiter. Ewig geht das so nicht. Irgendwann wird die Brust zu eng und die Luft knapp. Irgendwann liegt die Angst ist wie ein schwerer Stein auf der Brust, drückt wie ein Kloß im Hals. So kann keiner mehr atmen. Atemnot kennzeichnet Corona und Angst gleichermaßen. Fulbert Steffensky, Theologe, Dichter und weiser alter Mann warnte deshalb dieser Tage: macht nicht die Angst zum Gott, nicht das Virus zum alles bestimmenden Götzen. Aber so leicht ist das nicht, wenn Angst Seele frisst. In solcher Not sitzen die Jünger und sitzen wir. Es ist kaum noch auszuhalten. Schmerz und Sehnsucht treiben uns in die Ambivalenz von Resignation und Hoffnung, Einverständnis und Widerstand. So kann es nicht bleiben. Es muss anders werden. Es kann anders werden!

Da tritt Jesus mitten unter sie. Er durchbricht die Verbarrikadierung und Zurückgezogenheit und grüßt mit dem vertrauten: „Schalom!“ – „Friede sei mit euch!“ Mit dem Alltagsgruß bringt er Normalität zurück, erinnert die frühere Nähe. Schon das ein Aufatmen: Allein durch seine Gegenwart öffnet Jesus Chrustus die enge geschlossene Welt, macht sie weit. Danach zeigt er ihnen seine Wunden. Daran erkennen sie ihn. Die Wundern erinnern sie an die gemeinsame Geschichte, an geteilte Geschichte. Wund sind die Jünger auch. Sie haben eine große Hoffnung begraben, geweint und gelitten. Sie wissen, was es heißt, wund und allein, krank und traurig zu sein. Zuerst erkennen sie sich danran: am geteilten Leid. Aber nicht, um sich noch tiefer hineinzugraben! Ihn anzusehen, hilft, die eigene Verletzlichkeit zu ertragen. Ihn anzusehen hilft, nicht nur zu verstehen, was wir sind – solche die krank werden können, an Leib und Seele, solche die friedlos, unbehaust, lieblos, einsam, hungrig sind … - ihn anzusehen, wie er da trotz allem steht, hilft zu verstehen, wie wir sein könnten, wie wir trotz allem gemeint sind: Lebendig und so, dass sich die Wirklichkeit ändert!

Weil wir eine Gemeinschaft von Verwundeten sind, sind wir auch eine Gemeinschaft der Auferstandenen! Das kann den Blick freimachen! Das tröstet ungemein. Aber davon sind wir noch nicht wieder draußen. Allein davon geht es noch nicht wieder weiter hier unter uns. Jesus Christus weiß das. Er schickt sie darum raus und los. Wieder teilt er mit ihnen seine Geschichte und seine Erfahrung: „Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“

Und dann – ganz im Sinne von Jan Vogler – das Wunder für 2020: „Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!“ Ein Beatmungsgeschichte! Ausgerechnet! Es ist heilsamer Atem, der uns anweht, keiner der krank macht, keiner der Angst macht, keiner, der verantwortungslos und gefährlich ist, sondern Rettung! Er, der erstickt ist, schafft Zukunft durch seinen Atem. Ganz nah und sehr intim.

Ausgerechnet jetzt, wo wir uns nicht um den Hals fallen und in den Arm nehmen, rettet er durch körperliche Nähe, stillt Schmerz und Sehnsucht, weckt Hoffnung und Mut und schickt uns los, nach draußen, zurück ins Leben, das er mit uns teilt – so wie es ist unvollkommen aber nicht am Ende, voller Gefahren aber auch erfüllt vom heiligen Geist.


Predigtgedanken von Dompredigerin Cornelia Götz zum Pfingstausklang in St. Magni am Pfingstmontag 2020.


 

"Die Gedanken sind frei."

„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten.“ Ende des 18. Jahrhunderts, zur Zeit der französischen Revolution, ist dieses Volkslied in Deutschland entstanden.

Die Studenten sangen es damals, begeistert vom Gedankengut der Aufklärung und dem Wunsch, sich von geistiger Bevormundung der Herrschenden zu befreien: „Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.“

Und heute? Da benutzt unter anderem ein großer deutscher Internetdienstleister dieses Lied für seine Fernsehwerbung. Nun ja! Wer kann meine Gedanken erraten? Digital-kundige Menschen wissen: Das Internet vergisst nichts. Jeder Online-Kauf, jede Suchanfrage, jede Nachricht, die wir versenden: Das alles bleibt gespeichert, wird irgendwo aufbewahrt und ausgewertet. Und irgendwann, so sagen die Kritiker, weiß der Algorithmus der großen Rechner mehr über dich und deine Gewohnheiten als die Menschen, die dir nahestehen.

Wer kann meine Gedanken erraten? Google oder Facebook? Ja, vielleicht. Aber wer dieser Frage nicht nur im Netz, sondern auch im Glauben nachgeht, der findet eine andere Antwort. Sie lautet: Gott kann es! „Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder.“ So betet der weise König Salomo im Alten Testament zu Gott, als er den Tempel in Jerusalem einweiht. Schon Salomo hatte begriffen, was wir Heutigen oft vergessen: Dass Gott weiß, wie es um uns steht. Dass er uns Menschen in all unserer Unberechenbarkeit kennt. Dass wir bei diesem Gott immer mehr sind als die Summe unserer Daten.

„Du, Gott, allein kennst das Herz aller Menschenkinder.“ Das ist ein befreiendes Wort gerade in unübersichtlichen, auch beängstigenden Zeiten. Ich höre es so: Wir können mit diesem Gott in Beziehung treten. All unsere Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste sind bei ihm sicher aufgehoben. Darum bleibt es dabei: „Die Gedanken sind frei.“ Amen.

Gebet

Gott, der du Liebe bist!
Ich muss nicht Ich sagen.
Zu mir ist Du gesagt.
Ich muss nicht nach mir suchen.
Ich bin gefunden.
Ich muss mich nicht wichtig nehmen.
Ich bin wichtig genug genommen.
Ich muss nicht aufrecht stehen,
um gegen den Tag und gegen die Welt gewappnet zu sein.
Ich kann mich fallen lassen.
Ich muss nicht auf der Hut sein.
Ich kann loslassen.
Ich muss nicht wissen, was auf mich zukommt.
Ich kann alles auf mich zukommen lassen,
weil du, Gott, mit mir gehst. Amen.


Gedanken von Magni-Pastor Henning Böger. Das Lied "Die Gedanken sind frei" ist heute um 17:15 Uhr beim Bürgersingen von zuhause auf Radio Okerwelle zu hören.


 

"In den Himmel kommen" Zu Christi Himmelfahrt

"Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel …" So beginnt ein beliebtes Schunkellied, das im Rheinland gesungen wird, nicht nur zu Karneval. Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel … Singen Menschen unbekümmert und fröhlich.Aber die Frage dahinter ist doch größer und ernster, meine ich: Wie ist das eigentlich mit uns und dem Himmel?

Es hat Zeiten gegeben, da waren die Menschen eher pessimistisch eingestellt, was ihre Aussicht auf den Himmel anging. Da waren die Ängste groß vor einem Gott, der im Himmel thronend straft und richtet, der seinen Menschen am Ende jedes kleinste Vergehen vorrechnen würde. Da war der Himmel alles andere als sicher!

Heute ist vielen dieser strafende Gott fraglich und fremd geworden. Stattdessen glauben und sagen wir: Gott wird uns den Himmel nicht verschließen, weil er uns liebt, nicht unser Unglück will. Und mancher meint gut rheinländisch: Et hätt noch emmer joot jejange.

Wie ist das mit uns und dem Himmel? Ich meine: Wer nach dem Himmel fragt, der fragt nach den letzten Perspektiven seines Lebens: Welchen Sinn hat mein Dasein? Worauf läuft es hinaus? Fällt es am Ende ins Leere – oder in die Hände Gottes? Wer so nach dem Himmel fragt und nach Wegen dorthin oder dorthinein, der hält den Horizont seines Lebens offen, der gibt dem eigenen Leben Tiefe; der orientiert sich an einem größeren Jenseits, um im Diesseits verantwortlich zu leben.

Wie ist das mit uns und dem Himmel? Heute an Christi Himmelfahrt feiern wir,  dass dieser Christus und Gott in ihm für uns im Himmel und auf Erden gegenwärtig und erreichbar ist. Christi Himmelfahrt erinnert uns daran, den Himmel nicht zu klein zu denken  und ihn zugleich in seiner Größe nicht unendlich fern zu wissen. "Mein Himmel wird sich auf Erden ereignen", schreibt die Mystikerin Therese von Lisieux. Und weiter: "Ja, ich will meinen Himmel damit verbringen, auf Erden Gutes zu tun!"

Das sind starke Worte zu Himmelfahrt: Wer in Gottes Himmel kommen will, der sollte seine Füße zunächst fest am Boden behalten; nicht zu hoch schauen, sondern genau hinsehen – auf das Leben, wie es ist: schön und heil, und dann wieder unbegreiflich schwer und dunkel. Christi Himmelfahrt lädt uns ein, den Himmel schon auf Erden suchen. Weil Gott hier zu finden ist. Weil wir hier von ihm gestaltend gefragt sind. Weil sein Friede Himmel und Erde gilt.

Ich denke: So kann es gehen mit dem Himmel und mir. Wie gut wäre es, wenn ich eines Tages mit schmutzigen Händen vor Gott stehen könnte. Und Gott würde zu mir sagen: Es war gut. Du hast dich eingemischt. Du hast angepackt. Du hast auch Fehler gemacht. Aber du hast deine Hände nie im Schoß versteckt. Und nun gibst du sie mir gebraucht zurück.

Bitte weitersagen an alle, die auch gerne in den Himmel kämen.


Gedanken "voraus" zu Christi Himmelfahrt von Magni-Pastor Henning Böger


 

"Hinterher biste immer klüger!"

„Hinterher biste immer klüger!“ Das sagte meine Großmutter immer dann, wenn ich von Streit mit meinen Eltern erzählte, die natürlich mal wieder Recht behalten hatten. „Hinterher biste immer klüger!“ Blöder Spruch, aber wahr: Manche Lektion ist wirklich bitter gelernt.

Davon handelt auch eine Geschichte, von der ich heute erzählen möchte. Sie steht in der Bibel im vierten Mosebuch: Vielleicht waren sie einfach zu schnell, zu unüberlegt aufgebrochen in Richtung Meer.

Nachdem Durchzug kam dann der lange, mühsame Weg durch die Wüste hindurch. Und irgendwann hatte im Volk Israel das Murren begonnen; erst leise, dann lauter und schließlich gegen alles und jeden: die Idee, aus Ägypten zu fliehen, gegen Mose, den Führer, der doch vorgegeben hatte, den Weg ins gelobte Land zu kennen, und erst recht gegen Gott, von dem hier, in der Wüste so gar nichts mehr zu erkennen war: „Glaubst du, wir wollen so lange in der Wüste warten, bis wir sterben? Was gibt es hier schon? Nichts! Nur Steine und Sand! Nicht einmal Wasser und Brot!“

Die giftigen Schlangen hatten ihnen schließlich den Rest geben. Eines Morgens, als die Israeliten aus ihren Zelten traten, waren sie da. Aus allen Löchern krochen sie hervor. Sie zischten und wanden sich um die Beine und bissen zu.

Ihre Bisse waren tödlich. Viele starben. Zu viele. Irgendwann hatten sie nach Mose gerufen, ihn angefleht, Gott um Gnade zu bitten. Da hatte Mose für sie gebetet. Und Gott hatte sie wirklich gehört, hatte Mose ein Zeichen aufrichten lassen. Und jeder, der es ansah, blieb am Leben. Aber der Weg zur Hilfe, zum Neuanfang war steinig und schwer. Erst der Biss. Dann die Bitte. Dann die Rettung.

„Hinterher biste immer klüger!“ Das war die Art meiner Oma zu sagen, dass man aus Fehlern lernen kann, dass manche Erfahrung im Leben auch schmerzhaft erlitten werden muss. Auch das Leben in Corona-Zeiten hält solche Lektionen bereit: über fehlende Verantwortung oder allzu große Sorglosigkeit, über giftige Begegnungen unter eigentlich vertrauten Menschen.

Und auf unserem Weg durch die Wüste ist auch diese Lektion neu zu lernen: Gott mutet sie uns zu, die erschreckenden Stiche. Der Blick ins eigene Spiegelbild ist nicht immer schmeichelhaft. Manchmal ist er auch giftig. Aber immer heilsam.


Gedanken von Magni-Pastor Henning Böger


 

Einfach mal Danke sagen!

Frau Merkel sagt: „Danke, von ganzem Herzen Danke!“ Denn sie braucht uns Bürgerinnen und Bürger für den Erfolg ihrer Politik: Wir sollen Abstand halten und müssen mit Einschränkungen leben. Manche von uns leisten außerordentliche Arbeit in den Kliniken, Pflegeheimen und Supermärkten. Darum: Danke! Kaum ein Wort sagt die Bundeskanzlerin zurzeit häufiger.

Bereits vor der Corona-Krise sei Angela Merkel ein Danke-Mensch gewesen, schreibt der Journalist Andreas Rinke. Er begleitet die Bundeskanzlerin häufig und führt im Internet ein „Merkel-Lexikon“. Zum Stichwort „danken“ notiert er: Vielleicht liege es an ihrer christlichen Erziehung, vielleicht sei es ein kluger pädagogischer Trick: Noch nie habe ein deutscher Regierungschef seinen Dank so oft und an so viele Gruppen von Menschen ausgedrückt wie die Bundeskanzlerin. Es ist gut, finde ich, dass Menschen auch in hohen Leitungsämtern nicht vergessen, was für uns alle gilt: Einfach mal Danke sagen!

Auch im Gäste- und Gebetsbuch der Magni-Kirche finden sich zurzeit viele Einträge mit Dankesworten. Menschen danken für Gesundheit und Genesung, für Sicherheit und Bewahrung, auch dafür, dass hier die Türen in den vergangenen Wochen zu stiller Einkehr und Gebet verlässlich offenstanden.

Der Theologe Fulbert Steffensky schreibt dazu: „Danken ist nicht ganz leicht, weil man den Grund des Dankens nicht immer und manchmal gar nicht am Leben selber ablesen kann. Danken ist eine Form des Glaubens. Im Dank deutet man die Welt besser, als sie ist.“

Nicht alles, was uns widerfährt, erscheint uns dankenswert. Im Gegenteil: Es gibt Geschehnisse, die wir oft nicht verstehen. Corona gehört dazu. Und es gibt eigentlich immer irgendwo die Angst, es könnte nicht reichen, die Sorge, wir schaffen es nicht, wir sind zu wenige, die Kraft ist zu klein, die Probleme zu mächtig.

Aber meine eigene Erfahrung ist: Wenn ich mich trotz dieser Dinge entscheide, mit dem Danken zu beginnen, öffnet sich eine unsichtbare Tür und ich werde zu einer neuen Sicht auf die Dinge befreit. Mein Blick ändert sich: weg von mir, von meinem Mangel und meinen Unmöglichkeiten, hin zu den Menschen, die mir in alldem hilfreich zur Seite stehen. Und zu Gott, zu seinen Gaben und Möglichkeiten, mit denen er hier und ewig für mich sorgen will:  „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ (Psalm 103)

Die Widerstände lösen sich dadurch möglicherweise nicht auf, jedenfalls nicht gleich, aber sie verlieren an Macht, vor allem an Macht, mich zu entmutigen und mein Denken zu blockieren.

Auch Frau Merkel scheint es so zu gehen. Darum sagt sie weiter „Danke!“

Gebet

Guter Gott, soviel ist auf mich zugekommen in den letzten Wochen. Dankbar bin ich, dass du mit mir diesen Weg gegangen bist. Dankbar bin ich für die Menschen, die hinter mir stehen und mir Halt und Geborgenheit geben. Gott, segne sie alle, die mir lieb sind, und auch die, die uns das Leben schwer machen. Amen.


Gedanken von Magni-Pastor Henning Böger


 

Bin doch kein Angsthase

Im Zoo brüllt der Löwe. Im Schlafzimmer bewegen sich unheimliche Schatten an der Wand. In der Menschenmenge kann man leicht verloren gehen. Für sein Bilderbuch „Bin doch kein Angsthase“ erinnert sich der französische Illustrator Barroux an Situationen, in denen er als Kind Angst hatte.

Die Hauptfigur seines Buches aber ist frei davon. Der Junge spricht die kleinen und großen Leser direkt an: „Angst? Ich doch nicht! Weißt du, warum?“ Der Grund für seine Furchtlosigkeit liegt in seinen Armen: „Hab‘ ja mein Kuscheltier dabei.“

„Bin doch kein Angsthase!“ Diese kesse Lippe vergisst man nicht so schnell. Und ich finde, sie täte uns allen zurzeit häufiger ganz gut als mutige Antwort auf die vielen kleinen und großen Fragen im Corona-Alltag: Wie soll das gehen mit Familie und Beruf unter einem Hut, wenn Krippen, Kitas und Grundschulen weiter geschlossen bleiben? Wie kommt die berufliche Existenz vom seidenen Faden wieder auf sichere Füße, wenn der Laden zu ist und die Küche seit Wochen kalt? Wie lange kann man Kinder und Enkel nicht sehen dürfen, ohne dass man ins seelische Tief abrutscht? Jeder und jede wird diese Liste für sich ergänzen können. Fragen, viele Fragen, bei denen einem angst und bange werden könnte.

„Angst? Ich doch nicht! Weißt du, warum?“ Ja, warum eigentlich nicht? Die Frage, die der Zeichner Barroux mit leichter Feder stellt, ist einfach und schwer zugleich. Sie lautet: Was tragt ihr mit und in euch als Heilmittel gegen das ängstliche Fragen, die Sorgen und den Zweifel? Und zwar auch dann noch, wenn ihr dem Kuscheltieralter längst entwachsen seid?

Darum drehen sich zurzeit viele Gespräche, die ich als Pastor in St. Magni und am Dom führe. Danach gefragt, was sie mutig und zuversichtlich sein lässt, erzählen Menschen von prägenden Erinnerungen und positiven Erlebnissen in ihrem Leben, aber auch von Geschichten, Gedichten, Bibelworten, die sie als liebgewonnene Begleiter und persönliche Heilmittel gegen die Angst mit sich tragen.

Meine Kollegin am Braunschweiger Dom, Cornelia Götz, hat dafür ein schönes Bild gefunden. Sie schreibt: „Es ist gut, einen kleinen Vorrat an guten Worten zu haben!“ Dieser Vorrat macht den eigenen Horizont ein wenig heller und weiter, als man ihn sich selbst gerade denken oder machen könnte.

Meinen eigenen Vorrat an guten Worten habe ich in den vergangenen Wochen mit Worten des Apostels Paulus aufgefüllt. Der schreibt im Römerbrief im achten Kapitel: „Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von Gottes Liebe trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen noch andere Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Himmel noch Hölle.“

Das sind starke und tröstende Worte von der Liebe Gottes, mit der ich hier und ewig untrennbar verbunden bleibe. Und das ist ein wirklich guter Grund, gerade jetzt kein Angsthase zu sein. Danke, Barroux, für diesen Gedanken!

Gebet
Leuchte mir einen Weg. Zeige mir deine Furt. Gib mir eine Handbreit Stand. Löse mich von der Angst. Ich möchte freihändig leben. Ich möchte aufrecht gehen, Gott.


Gedanken von Magni-Pastor Henning Böger


 

Wohnzimmer-Konzerte gegen die Angst

Als Konzerte wegen der Corona-Krise abgesagt werden, ist Igor Levit einer der Ersten: Unter dem Motto „No Fear“ sendet er aus seinem Wohnzimmer Klaviermusik via Internet in alle Welt. Leger gekleidet, in Pulli und Socken, spielt der 33-Jährige am Flügel Liszt, Schubert oder Beethoven. Und erhält dafür viel dankbare Rückmeldung von denen, die in großer Zahl ebenfalls von zuhause aus seine Konzerte genießen.

No Fear. Keine Angst. Für viele Menschen ist Musik in diesen Corona-Wochen gerade darum besonders wichtig: Weil sie Angst nehmen kann und ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit vermittelt. Und Musik eignet sich hervorragend, um nach außen, mit anderen zu kommunizieren: "So geht es mir gerade!" So singen Menschen verschiedener Sprache und Kultur zurzeit gemeinsam an Fenstern, auf Balkonen und Terrassen. In der Karwoche haben wir das auch in den Braunschweiger Kirchengemeinden ausprobiert.

Wer nun summend die Bibel zur Hand nimmt, der kann ein Buch voller Musik entdecken, mit Tönen für alle Lebenslagen: Lieder, die Gott loben und von Herzen dafür danken, dass dieser Gott mit seinem Schutz und Segen nahe ist. Aber auch leise, klagenden Töne, wenn ein Mensch sich einsam, verlassen, krank oder dem Tode nahe fühlt und sich bittend an Gott wendet: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom EINEN, der Himmel und Erde gemacht hat. Siehe, dein Hüter schläft und schlummert nicht ..." So klingt der 121. Psalm, für mich eines der schönsten Lieder, die es gibt.

Nichts ist kräftiger und wirkungsvoller als die Musik, wenn es darum geht, „die Traurigen fröhlich und die Verzagten beherzt zu stimmen", so der Reformator Martin Luther, für den der Glaube und die Musik engverbundene Geschwister waren.

Der Pianist Igor Levit sagt, er wolle mit seiner Musik die Kette der Einsamkeit durchbrechen. Das scheint ihm zu gelingen, denn seine Wohnzimmer-Konzerte haben längst Kultcharakter. Sie halten schützenden Abstand und überwinden doch Distanzen. So spielt er weiter Stücke wie die „Moments Musicaux“ oder die Mondscheinsonate – als „heilendes, ja rettendes Moment“, wie er sagt, für sich selbst und für andere.

Das ist ein starkes, klingendes Zeichen der Zuversicht dem Virus zum Trotz. Wer Igor Levit zuhört, der spürt: Da trifft einer genau den richtigen Ton! Gott sei Dank dafür.

Gebet zum Tag
Gott, stimme uns neu, dass wir taugen als deine Instrumente. Gib uns Lebensbrot, dass wir dein Lied singen. Lege uns Begeisterung ins Herz und zaubere ein neues Lied in unsere Seele. Amen.


Gedanken von Magni-Pastor Henning Böger


 

Das Band, das uns verbindet

Wenn jammern helfen würde, wären alle Menschen glücklich.
Wenn meckern helfen würde, wäre die Welt voller Harmonie.
Wenn Gewalt helfen würde, wäre die Welt ein friedliches Paradies.
Mit einem Lächeln wäre die Welt hier und da ein kleines bisschen bunter.

Doch wer sieht unser Lächeln, wer sieht unsere Tränen - so ganz allein mit uns und unseren Gedanken?

 

Vielleicht, so sagt es Papst Franziskus, ist das einzige Band, das alle Menschen verbindet, die Liebe Gottes.

Vielleicht ist Gottes Lächeln hinter einem Mundschutz gerade nicht so leicht zu erkennen.

Vielleicht ist Gottes Liebe verborgen
in jedem neuen Tag
in jedem Sonnenstrahl
in jedem Regentropfen
in jedem Vogelzwitschern,
in jeder Knospe, jeder Blume, jeder Wolke.
In jedem lieben Wort, das Menschen für einander haben

... und in jeder Rolle Klopapier, die sie einander schenken,
damit es niemandem daran mangelt und niemand darum kämpfen muss.

Bleiben Sie gesund und zuversichtlich!


Ein Impuls von Ryka Foerster, die in Braunschweig schreibt und lebt. Weitere Texte von ihr findet sich auf rykafoerster.wordpress.com/eine-seite.


 

Zum Karfreitag: So viele Kreuze waren noch nie

Gottesdienste finden nicht statt und viele Kirchen sind verschlossen. Und doch: Gebet, Fürbitte und Verkündigung sind gegenwärtiger denn je. Blitzartig ist das Internet auch zum Andachtsraum geworden. Bekleidet mit Talar oder Messgewand, aber auch ganz schlicht im schwarzen Anzug, begleitet von Orgel, Posaunenchor oder Gitarre begrüßen die Andachthaltenden ihre Gemeinden. Unabhängig von der äußeren Gestaltung von Raum und Personen, die Christen versammeln sich um das Kreuz. Seine Formen sind vielfältig, wie die Künstler, aus deren Hand sie stammen.

Das Internet braucht Bilder. Und das Kreuz ist visueller Fixpunkt, auch auf Instagram und Facebook. Dabei ist das Kreuz eines der ältesten, universell gebrauchten Zeichen der Menschenheit. Welche Form es auch von der jeweiligen Zivilisation erhält, es bleibt das Symbol des Lebens, der Kraft, die die Welt belebt.

Das Kreuz ermöglicht Orientierung im Raum oben/unten und rechts/links. Es entspricht der Menschengestalt mit ausgestreckten Armen. Und verbindet so die Vertikale und Horizontale zur Ganzheit. Neben dem Kreis ist das Kreuz Strukturelement vieler Mandala- und Meditationsbilder und es liegt den Bauplänen von Tempeln und Kirchen zugrunde. Weltbild-Darstellungen in vielen Kulturen sind kreuzförmig angelegt. Auch das biblische Paradies mit seinen vier aus ihm entspringenden Flüssen wurde in der bildenden Kunst entsprechend Art dargestellt.

Das Kreuz kann auch als Zeichen für den Scheideweg verstanden werden – als Ort, wo sich die Wege der Toten und der Lebenden kreuzen, wie in der Symbolik afrikanischer Völker. In Asien wird die vertikale Achse des Kreuzes häufig als Symbol der aktiven, dem Himmel zugeordneten Kräfte, also des männlichen Prinzips verstanden. Während die horizontale Achse den passiven Kräften des Wassers, also dem weiblichen Prinzip entspricht. Außerdem symbolisieren beide Achsen die Tag- und Nachtgleichen und die Sonnenwenden.

Im Christentum steht das Kreuz für das Leiden und Sterben Christi ebenso wie für seinen Triumph über den Tod. Auf die Symbolik des Lebensbaums verweist vor allem die sehr alte Form des Gabelkreuzes. In der christlichen Kunst begegnet uns auch das Blüten und Blätter treibende Kreuz, wie auf dem Bild aus der Braunschweiger St. Petri-Kirche. Es versinnbildlicht die Überwindung des Todes.


Ein Beitrag von Angela von Schreiber-Stroppe. Die studierte Historikerin und Journalistin engagiert sich als Pilgerbegleiterin und Wegpatin auf dem Braunschweiger Jakobsweg und ist Mitglied im Kirchenvorstand der Magni-Gemeinde.


 

Die Karwoche der Welt

Dieses Bild nehme ich mit durch die Karwoche. Es zeigt den dunkeln, leeren und regennassen Petersplatz in Rom. In der Mitte ist eine kleine, überdachte Bühne aufgebaut. Darauf steht, ganz in weiß gekleidet, Papst Franziskus. Vor einigen Tagen hält er eine kurze Andacht und erteilt dann den Segen „Urbi et Orbi“ - Segen für die Stadt Rom und für die Welt. Es ist ein großer und heller Moment in einer dunklen Zeit. Im Namen Gottes segnet Franziskus die kranke Welt – und bittet um Heilung.

Gebet und Segen - beides haben wir, wie wir jeden Tag klarer sehen, dringend nötig. Die Welt ist schwer krank. Es gibt kein Land, in dem Menschen sich nicht fürchten vor dem, was ist und was noch kommen könnte – für sie persönlich oder für ihre Angehörigen und Freunde. Wie erstarrt schauen viele von uns täglich auf die Zahl der Erkrankten und die Zahl der Gestorbenen. Ein Kollege schreibt dazu: "Die Welt erlebt eine Karwoche; eine Schmerzenswoche, wie sie bisher unvorstellbar war."

Wir alle merken ja zurzeit, wie eingeschränkt der Lebensalltag ist, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind. Aber Papst Franziskus tut, was ihm möglich ist: Er bittet stellvertretend um Heilung. Und er segnet im Namen Gottes die kranke Welt. Das ist eine starke und tröstende Geste!

"Der Segen ist der Ort, an dem wir werden, weil wir angesehen werden", schreibt der Theologe Fulbert Steffensky: "Es leuchtet ein anderes Antlitz über uns als das eigene; es ist ein anderer Friede da als der, den wir uns selbst erkämpft und erobert haben. Der Ausgang und der Eingang sind nicht von den eigenen Truppen bewacht, sie sind von Gott behütet."

Unser Eingang und Ausgang ist von Gott behütet! Wer mag, nimmt diesen Gedanken mit auf den Weg durch die Karwoche. Und hört dazu den Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich.
Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig.
Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.

Ein Text von Magni-Pastor Henning Böger


 

Glücksorte

Gestern lag in meinem Briefkasten eine schöne Überraschung: das Büchlein „Glücksorte in und um Braunschweig“. Ein aufmunterndes Geschenk aus der Gemeinde in ernster Corona-Zeit. Danke dafür!

„Braunschweig ist prall gefüllt mit Glücksmomenten“, schreibt die Autorin Monika Herbst im Vorwort. Darum: „Fahr hin und werde glücklich!“

Aufgrund der gegenwärtigen Einschränkungen sehen meine Wege zurzeit eher anders aus: sehr zielgerichtet zum Einkaufen oder konzentriert zwischen den Kirchorten St. Blasius am Burgplatz und St. Magni im Magniviertel. Echte Lichtblicke sind die täglichen Fahrradrunden mit unseren beiden Jungs, die mit ihren sechs und neun Jahren hin und wieder gut durchgelüftet werden müssen. Dabei könnten wir ja auch mal einen dieser achtzig beliebtesten, geheimsten und ungewöhnlichsten Orte der Stadt ansteuern, die einen glücklichen machen können. Oder eben etwas später im Jahr, wenn unser Alltag seinen normalen Takt wiedergefunden hat.

Ein Satz von Monika Herbst hat mich berührt: „Das Schöne am Glück ist, dass man es finden kann. Man kann trainieren, glücklich zu sein, indem man bewusst die schönen Dinge im Leben wahrnimmt – und die entsprechenden Orte aufsucht.“ Das will ich mir gerne gesagt sein lassen zwischen all den schweren Nachrichten, die uns täglich erreichen!

Glücksorte in und um Braunschweig: Wenn es Sie jetzt in den Fingern juckt, dann beginnen Sie doch einfach Ihre eigene Liste zu schreiben. Und freuen sich darauf, diese Glücksorte in der Zeit nach Corona zu besuchen. Frei nach dem Motto: „Fahr hin und werde glücklich!“

Ganz gleich, zu welchen Orten Sie dann unterwegs sind, Ihre Wege mögen bis dahin gesegnet sein!

Ein Text von Magni-Pastor Henning Böger


 

Vollbremsung: Von achtzig Laufkilometer auf null

Gedanken einer Läuferin - ein Trainingstagebuch

Seit mehr als zehn Jahren hat Bewegung einen festen Platz in meinem Wochenplan. Nein, eigentlich sind es sogar mehrere. Und das war nicht immer so in meinem Leben.
Jedes Jahr eine Challenge - eine Herausforderung - sagen die jüngeren Frauen in meinem Fitness-Studio. Und das dachte ich dann auch: Im Frühjahr 2019 nahm in meinem Kopf und meinen Beinen ein für mich besonders Vorhaben Gestalt an. Einmal den Sylt-Lauf mit einer Länge von 33,33 km - von Süd nach Nord über die Insel - zu finishen.
Die erste Hürde: einen Startplatz zu ergattern. Die Anfrage beim Veranstalter TSV Tinnum66 ergab, dass die Anmeldung Mitte Juni im Internet geöffnet wird. Wann genau - unbekannt. Also tägliche Kontrolle der einschlägigen Seite. Am 18. Juni 2019 ploppt das Meldeformular auf und zwei Tage später geht die Bestätigung ein. Alles klar, Startnummer 414 ist fix, die Startgebühr wird im Dezember abgebucht.
Jetzt geht es an die Planung von Trainingseinheiten und Wettkämpfen. Am 15. März 2020 will ich fit und optimal vorbereitet sein. Einige Halbmarathons habe ich bereits hinter mich gebracht. Das ist eine gute Grundlage.
Das erste Etappen-Ziel soll der Volkslauf in Schapen sein. Auf dem Programm steht die 6,1 km Distanz. Für das Training bedeutet das schnelle Intervalle und natürlich eine Einheit Langlauf pro Woche - im Hinblick auf das große Ziel. Viermal in der Woche in die Laufschuhe und die 40 km abspulen. Der Muskelaufbau und die Körperstabilisierung finden im Fitness-Studio statt.
Am 1. September 2019 ist Start in Schapen.  Die Strecke durch Riddagshausen ist besonders schön und der Veranstalter gibt sich immer ganz viel Mühe. Es geht familiär und sportlich zu. Mit meiner Ziel-Zeit bin ich zufrieden. So kann es weitergehen.
Die nächste Etappe ist der Braunschweiger Lauftag. Ende Oktober 2019 gilt es, den Halbmarathon (21,1 km) zu Ende zu laufen , aber bitte unter zwei Stunden. So die eigene Zielsetzung.
Für das Training bedeutet das: die Intervalle-Distanzen werden jede Woche verlängert ebenso wie diejenigen der langen Läufe. Das wöchentliche Lauf-Volumen liegt jetzt bei 50+ km.
Die Ziel-Zeit liegt bei eine Stunde und 54 Minuten. Das macht mir Mut. Der Trainingsplan wirkt. Also weiter so.
Die letzte Leistungs-Überprüfung vor dem Sylt-Lauf soll der Neujahrslauf sein. Nur 5 km, die aber richtig schnell - so der Plan. Das heißt die langen Einheiten beibehalten und kurze schnelle Einheiten einschieben.
Das Jahr 2020 beginnt lauftechnisch richtig gut: beim Lauf-Jahresauftakt am Südsee reicht es bei den Damen für den zweiten Platz. Das ist für mich Rekord.
Die vielen langen Läufe haben sich ausgezahlt. Jetzt geht es die letzten 12 Wochen in den Trainings-Endspurt. Langsam wird das Wochen-Lauf-Volumen auf bis zu 80 km erhöht. Die Intervall-Distanzen erreichen jetzt bis zu 6 km. Das Ringgleis wird zu meinem zweiten Zuhause. Zweimal in der Woche bin ich dort anzutreffen, von Haustür zu Haustür, komme ich auf 27 km.
Ab Mitte Februar wird das Training mühsam. Zur Kälte, manchmal um die 0-Grad, gesellt sich Wind. Meistens Gegenwind. Eine gute Übung für die Nordseeinsel. Wie wird dort im März das Wetter sein?
Der tägliche Blick in Wettervorhersage  ist jetzt ein absolutes MUSS. Während die Temperaturen konstant bei 10 Grad vorhergesagt werden, schwankt die Windrichtung zwischen Nord (Gegenwind) und Süd-West.
Inzwischen gibt es in Deutschland die ersten Corona-Fälle. Aber das ist alles noch weit weg.
Anfang März kann ich endlich die Trainingsdistanzen zurückschrauben. Tappering-Phase heißt das: dem Körper Gelegenheit geben, sich zu erholen. Dazu gehört viel zu schlafen, gut zu essen und sich wohl zu fühlen.
Der Virus kommt näher, die ersten Großveranstaltungen werden abgesagt. Der Wasa-Lauf in Celle, traditionell die Lauf-Auftakt-Veranstaltung im Norden, fällt aus.
Wieder kontrolliere ich die web-site des TSV Tinnum66 - mehrfach täglich. Dort wird den Läufern versprochen, es werde alles getan, um den Lauf durchzuführen.
Am 10. März, meine vorletzte Laufeinheit, heute zusammen mit magni läuft … . Und dann, nach meiner Rückkehr, am PC die Gewissheit: Der Sylt-Lauf ist abgesagt.
Mein Mann schreibt eine Liste, was alles tun ist: Apartment und die Reservierung auf der Fähre stornieren, einen geplant zwischen-Stopp auf der Strecke absagen.
Ich bin erst einmal nur am Boden zerstört. Aber es kommen noch mehr Absagen: die Vesperkirche der Propstei und die beiden Pilgertouren, die ich für März und Mai geplant hatte, finden ebenso wenig statt wie das Sinfoniekonzert und, und, und.
Meine letzte Laufeinheit - nach Plan - mache ich schon im Bewusstsein, den Sylt-Lauf wird es nicht geben.
Jetzt ist Corona auch in Braunschweig. Absagen, Aufschieben, Stornieren - die Notwenigkeit der Stunde. Der Kirchenvorstand kommt zu einer Sondersitzung zusammen - es wird das vorerst letzte persönliche Treffen - auf Abstand natürlich. Eine Ausgangssperre bleibt uns vorerst erspart. Das ist wichtig für mich, denn ich muss das Laufvolumen langsam zurückfahren.
Und später - "wirst du mit dem Training wieder anfangen", sagt mein Mann. Der TSV Tinnum66 will die Startnummern ins nächste Jahr übertragen.
Auch am Läufer-Himmel gibt es Licht am Horizont.

Ein Text von Angela von Schreiber-Stroppe, Mitglieder im Magni-Kirchenvorstand und Initiatorin der Laufgruppe "Magni läuft".


 

Etwas Güte, bitte!

Oma geht es besser, sagt die Enkelin. Es sei wie ein Wunder, erzählt sie einer Zeitung vor ein paar Tagen. Dabei ging es Oma schlecht. Sie ist hochbetagt und schon etwas dement. Wenn die Kinder und Enkel aus dem Haus gehen, sitzt die Oma immer am Fenster und blickt ins Leere. So wenigstens dachte es die Enkelin bis vor ein paar Tagen. Aber auf einmal liegt ein Geschenk ohne Absender im Briefkasten. Und dabei liegt eine Karte: „An die Dame, die immer winkt und lächelt, mit besten Grüßen. Es ist so schön, Sie lächeln und winken zu sehen, wenn ich an Ihrem Haus vorbeigehe. Bitte nehmen Sie mein Geschenk - und lächeln Sie weiter!“

Haben Sie auch ein Bild dieser alten Dame vor Augen? Ich stelle sie mir vor: Wie sie im Sessel am Fenster sitzt, fröhlich und gütig nach draußen winkt und andere damit zum Lächeln bringt. Und dafür Aufmerksamkeit bekommt. Ein schönes Bild zu einer schönen Geschichte, die sagt: Güte kommt immer zurück; vielleicht nicht so, wie man sich das erhofft. Trotzdem kommt sie und macht uns sanfter zu uns selbst und zu anderen. Güte fällt immer auf. Weil sie alles erträglicher macht. Weil wir Gott sehen, wenn jemand gütig zu uns ist. Denn Gott ist im Sanften. Und Gott liebt es oft leise und anders, als wir es uns denken.

Wenn Jesus sagt, dass die Sanftmütigen selig seien, weil sie das Erdreich besitzen werden, dann denke ich bei den Sanftmütigen genau jene Menschen: die sich vom Leben nicht hart und bitter machen lassen, sondern sich ein wenig Güte behalten. Und das tun, was noch geht - also vielleicht lächeln und winken.

Ein Text von Magni-Pastor Henning Böger